Landessozialgericht NRW: Asylbewerberleistungsgesetz ist verfassungswidrig

Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht


Das Landessozialgericht (LSG) NRW hat festgestellt, dass die Grundleistungsbeträge nach § 3 Abs 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sowie der Barbetrag (Taschengeld) nach § 3 Abs 1 AsylbLG verfassungswidrig sind. Es hat daher dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob die Höhe der im Gesetz genannten, seit 1993 unveränderten Geldbeträge mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip vereinbar ist.

* Hier (download) ist der vollständige Wortlaut des von Rechtsanwältin Eva Steffen aus Köln erstrittenen Vorlagebeschlusses vom 26.07.2010 (L 20 AY 13/09) zum AsylbLG. Zum Inhalt des Beschlusses siehe auch die Pressemeldung des LSG NRW vom 27.07.2010.

Die Beträge nach § 3 AsylbLG sind nach Auffassung des LSG NRW der Höhe nach offensichtlich unzureichend, da die Regelsätze nach SGB II/XII um 31 % unterschritten sind. Auch die auf atypische Ausnahmefälle beschränkte Möglichkeit, „sonstige Leistungen“ nach § 6 AsylbLG zu gewähren, ist nicht dazu geeignet, ein verfassungskonformes Leistungsniveau herzustellen. Die Beträge nach § 3 sind von vorneherein willkürlich festgelegt worden. Die Bundesregierung konnte dem LSG trotz mehrfacher Nachfragen nicht die Gründe darlegen, weshalb seit 1993 entgegen der Vorgabe in § 3 Abs 3 AsylbLG niemals eine Anpassung der Beträge an die Preissteigerung vorgenommen wurde.

§ 3 AsylbLG entspricht daher nach Auffassung des LSG nicht den Anforderungen des zu den ALG-2 Regelleistungen ergangenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 an die aus Art 1 und 20 Grundgesetz (Menschenwürde, Sozialstaat) abzuleitenden  Anforderungen an die Bemessung der Höhe der Leistungen zur Gewährleistung des vom BVerfG im genannten Urteil definierten „Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum“.

Der aus dem Irak stammende Kläger lebt seit 2003 in Deutschland. Er wird nach Ablehnung seines Asylantrags aus rechtlichen bzw. tatsächlichen Gründen geduldet. Infolge der Verlängerung der in § 2 AsylbLG genannten Wartefrist für die Gewährung von Leistungen auf Sozialhilfeniveau von 36 auf 48 Monate und des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17.06.2008 zur Umsetzung dieser Fristverlängerung hatte das Sozialamt Eschweiler die Leistungen des Klägers, der bereits seit 2006 gemäß § 2 AsylbLG Leistungen in Höhe der Sozialhilfe nach dem SGB XII erhielt, vom 1.1.2009 bis 31.12.2009 erneut für 12 weitere Monate auf das Niveau des § 3 AsylbLG gekürzt, um so die auf 48 Monate verlängerte Wartefrist zu erfüllen. Zudem wurde die Krankenversichertenkarte eingezogen und nur noch Akutbehandlungen nach § 4 AsylbLG gewährt. Die mangels Übergangsregelung vorgenommene erneute Kürzung hält das LSG – mit dem BSG, aber entgegen der Auffassung vieler Kommentierungen – grundsätzlich für rechtens.

Das LSG NRW hat sich in seinem Vorlagebeschluss nicht mit der Frage befasst,

* ob auch die Leistungen nachdem AsylbLG für Kinder ausreichend sind. Die Kürzungen für Kinder sind teils noch gravierender als bei Erwachsenen, obwohl sich kaum Gründe anführen lassen, dass der Bedarf der Kinder von Flüchtlingen – z.B. zum Schulbesuch –  geringer als bei Inländern sei , und

* ob auch Ausländer mit Aufenthaltserlaubnis z.B. nach § 25 V AufenthG ins AsylbLG einbezogen werden dürfen.
Der vorliegende Fall gab dazu keinen Anlass. Ggf. wären daher in entsprechenden Fällen weitere Vorlagebeschlüsse bzw. Verfassungsbeschwerden anzustreben.

Dem BVerfG vorgetragen werden sollten auch Fälle, in denen die Kürzung nicht allein auf die fehlende Übergangsregelung im Zusammenhang mit der Fristverlängerung des § 2 AsylbLG von 36 auf 48 Monate zurückzuführen sind, denn das Problem des Klägers im vorgelegten Fall ließe sich möglicherweise auch durch eine  verfassungskonforme Auslegung des AsylbLG (Anrechnung der früheren Bezugszeiten nach § 2 auf die 48-Monats-Wartefrist) lösen.

* Gegen alle Leistungsbescheide nach § 3 AsylbLG sind unter Hinweis auf den Beschluss des LSG NRW Widersprüche möglich, evtl. verbunden mit dem Antrag, die Entscheidung auszusetzen, bis das BVerfG uber die Verfassungsmäßigkeit des AsylbLG entschieden hat.

* Insbesondere auch die Schulbedarfspauschale für Kinder von 100 €/Schuljahr (analog § 24a SGB II/§ 28a SGB XII) sollte nunmehr unter Hinweis auf die Entscheidungen des BVerfG und des LSG beantragt werden!

(Lesetipp zum LSG-Vorlagebeschluss, falls sich jemand von den 50 Seiten überfordert fühlt: „Hinten“ anfangen, die zentralen Aussagen finden sich ab Seite 34.)





Nach oben scrollen