Veröffentlicht am 16.01.2018

16.01.2018: Rechtsfreie Zone im Bezirksamt Mitte?

Sozialbehörde bekämpft Obdachlose statt Obdachlosigkeit

Pressemitteilung vom 16. Januar 2018

Während Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel Ressentiments gegen wohnungslose Unionsbürger*innen im Tiergarten schürt, erreichen den Flüchtlingsrat Berlin laufend Beschwerden anerkannter Flüchtlingen, die vom Bezirksamt Mitte rechtswidrig in die Obdachlosigkeit geschickt werden.


Das Bezirksamt verweigert die Zuweisung einer Unterkunft oder die Kostenübernahme, weil es sich um angeblich „freiwillige Obdachlosigkeit“ handele. Wegen schwerer Krankheit oder Behinderung besonders schutzbedürftige Flüchtlinge werden zwar untergebracht, allerdings oft in völlig ungeeigneten Unterkünften. Statt Hilfe bei der Wohnungssuche erfahren die Menschen Abwehr und Ignoranz.

Beispiele für Rechtsverstöße durch das Bezirksamt Mitte bei der Unterbringung anerkannter Flüchtlinge:

Wochenlang bemühte sich ein junger Palästinenser aus Syrien vergeblich beim BA Mitte um eine Unterkunft, nachdem sein Untermietvertrag gekündigt wurde. Obwohl das Verwaltungsgericht Berlin das Bezirksamt per Eilantrag verpflichtete (1), dem Flüchtling sofort einen Platz in einer Unterkunft nachzuweisen, setzte sich das Bezirksamt über den Gerichtsbeschluss hinweg und verweigerte die Unterbringung. Es sei für den wegen einer beruflichen Bildungsmaßnahme mit Erlaubnis der Ausländerbehörde aus Thüringen nach Berlin umgezogenen Mann nicht zuständig. Der 19-Jährige wurde mit den Worten „geh zurück wo du hergekommen bist“ in die Obdachlosigkeit geschickt. Erst nachdem sein Anwalt bei Gericht ein Zwangsgeld gegen das Bezirksamt beantragt hatte, wies das Bezirksamt eine Unterkunft zu. Auch anderen legal nach Berlin zuziehenden Flüchtlingen verweigert das Bezirksamt Mitte rechtswidrig die Unterkunft.

Die dreiköpfige Familie A. aus Syrien wurde im Oktober 2017 in Folge eines Hausverbots wegen Verstoßes gegen die Hausordnung obdachlos. Das BA Mitte wies lediglich der Mutter und dem einjährigem Kind eine neue Unterkunft zu. Der Vater ist seitdem obdachlos, nach Aussage des Bezirksamtes „freiwillig“. Die Familie wurde vom Bezirksamt zwangsweise getrennt.

Kurz vor Weihnachten erhielt ein alleinstehender Mann aus Syrien wegen Rauchens auf dem Zimmer ein Hausverbot in seiner Unterkunft. Er sprach daraufhin beim BA Mitte vor und bat um Zuweisung einer neuen Unterkunft. Die Soziale Wohnhilfe des Bezirks wollte den Mann nicht einmal anhören und lehnte eine erneute Unterbringung wegen „freiwilliger Obdachlosigkeit“ ab. Ebenso ergeht es zahlreichen Geflüchteten, die z.B. wegen Verstoßes gegen das Rauch- oder das Kochverbot ein Hausverbot in der bisherigen Unterkunft erhalten haben.

Oft erhalten die Geflüchteten erst nach hartnäckiger Intervention von Ehrenamtlichen oder Rechtsanwält*innen eine Unterkunft. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche Geflüchtete und andere Wohnungslose in Zuständigkeit des Bezirksamts Mitte, die nicht anwaltlich vertreten sind und keine Unterstützung von Dritten erhalten, rechtswidrig obdachlos gelassen werden.Georg Classen, Sprecher des Flüchtlingsrates: „Das vom Bezirksamt Mitte angeführte Konstrukt der ‚freiwilligen Obdachlosigkeit’ ist ein ungeheuerlicher Zynismus. Das Bezirksamt Mitte weigert sich rechtswidrig, seine sozial- und polizeirechtlichen Pflichtaufgaben zu erfüllen. Menschen, die sich hilfesuchend mit der Bitte um Unterbringung an die Behörde wenden, sind niemals freiwillig obdachlos. Anders ist es allenfalls, wenn jemand aus eigenem Entschluss auf eine Obdachlosenunterkunft verzichtet, wobei auch dies in der Regel auf das Fehlen adäquater Hilfsangebote zurückzuführen ist.“

Bereits im März 2017 hatte das Verwaltungsgericht Berlin klargestellt, dass auch Wohnungslose, die in ihrer bisherigen Unterkunft Hausverbot haben, stets nach ASOG unterzubringen sind.(2) Siehe dazu auch das Rechtsgutachten der BAG Wohnungslosenhilfe zum polizei- und ordnungsrechtlichen Anspruch auf Unterbringung.(3)

„Statt die Abschiebung wohnungsloser Unionsbürger*innen zu fordern, muss Bezirksbürgermeister von Dassel die rechtsfreie Zone im eigenen Bezirksamt beseitigen und endlich dafür sorgen, dass der Bezirk seiner Verpflichtung nachkommt, obdachlosen Menschen, gleich welcher Herkunft, umgehend eine Unterkunft zuzuweisen“, sagt Georg Classen.

Der Flüchtlingsrat fordert Senat und Bezirke auf, berlinweit eine bedarfsgerechte, menschenwürdige Unterbringung und die erforderliche Hilfe für alle wohnungslosen Geflüchteten in Berlin zu gewährleisten, siehe Forderungskatalog anbei.

Hintergrund:

Nach dem Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (ASOG Bln) in Verbindung mit dem Allgemeinen Zuständigkeitsgesetz (AZG Bln) sind die Berliner Bezirke für die Unterbringung Obdachloser verantwortlich, einschließlich anerkannter Flüchtlinge. Das Land –  Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) – ist nach dem AZG nur für die Unterbringung von Asylsuchenden zuständig. Die Bezirksämter müssen bedürftigen, wohnungslosen Personen passende Unterkunftsplätze nachweisen, vgl. www.berlin.de/sen/soziales/themen/berliner-sozialrecht/kategorie/sonstige/vereinbarung_wohnungslose_anlage2-573376.php

Forderungen:

  • Die Bezirke müssen ihrer zwingenden, polizeirechtlichen Verpflichtung nach ASOG nachkommen, Obdachlose ungeachtet der Ursache ihrer Obdachlosigkeit unterbringen. Dies gilt auch für das Bezirksamt Berlin-Mitte.
  • Für die Unterbringung Wohnungsloser müssen berlinweit verbindliche Qualitätsstandards geschaffen werden. Die Zuständigkeit für Ausschreibung der Unterkünfte, Vergabe und Verträge, vertraglich gesicherte Qualitäts- und Betreuungsstandards und deren Kontrolle sind an das Land zu übertragen, wenn die Bezirke mit der Unterbringung überfordert sind (Änderung des AZG).
  • Der individuelle Hilfebedarf muss bei der Unterbringung Wohnungsloser stets im Vordergrund stehen (Berücksichtigung von Krankheit und Behinderung, psychischen Traumatisierungen, kindgerechter Unterbringung, Suchtproblematiken usw.), nicht ordnungspolitische Erwägungen.
  • Land und Bezirke müssen Geflüchtete und andere Wohnungslose bei der Suche und Anmietung einer regulären Wohnung intensiv unterstützen. Dazu sind alle nach § 67ff. SGB XII möglichen Hilfen der Beratung und Unterstützung zu nutzen und auszubauen (zielgruppenspezifische Beratungsangebote zur Wohnungssuche zB für Geflüchtete, Bewilligung von Einzelfallhilfen zur Unterstützung bei der Wohnungssuche, Trägerwohnungen usw.).

Fußnoten:
(1) Beschluss des VG Berlin, VG 23 L 921.17 vom 22.12.2017
(2) VG Berlin, VG 23 L 144.17 v. 01.03.2017: Anspruch auf Zuweisung einer Unterkunft wegen unfreiwilliger Obdachlosigkeit auch bei mehrfachem Hausverbot
(3) Ruder, Karl-Heinz, Grundsätze der polizei- und ordnungsrechtlichen Unterbringung von (unfreiwillig) obdachlosen Menschen unter besonderer Berücksichtigung obdachloser Unionsbürger, Nov. 2015, www.bagw.de/de/themen/notversorgung/gutacht.html





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