Veröffentlicht am 25.06.2013

Reinickendorf – Panikmache vor schutzsuchenden Flüchtlingen stoppen!

Flüchtlingsrat fordert Reinickendorfer Bezirkspolitiker auf, Asylaufnahme zu unterstützen statt zu sabotieren


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Gemeinsame Presseinformation vom 25. Juni 2013 / Lokales
(hier auch als pdf!)

Panikmache vor schutzsuchenden Flüchtlingen stoppen!

Flüchtlingsrat fordert Reinickendorfer Bezirkspolitiker auf,
Asylaufnahme zu unterstützen statt zu sabotieren

Während das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) händeringend nach geeigneten Immobilien zur Unterbringung asylsuchender Flüchtlinge sucht, wehren sich LokalpolitikerInnen jeglicher Couleur gegen die Eröffnung von Sammelunterkünften für Flüchtlinge in ihrem Bezirk – nach dem Motto „Asyl ja, aber nicht bei uns!“ Besonders negativ hervor sticht dabei das Bezirksamt Reinickendorf. Mit regelrechten Sabotageaktionen gegen neue Flüchtlingsunterkünfte werden dort rassistische Stimmungen im Bezirk befördert.

Reinickendorf: Flugblätter und rechtswidrige Quarantäne gegen Asylsuchende

Nur widerwillig stimmte das Bezirksamt im vergangenen Herbst der Eröffnung einer Notunterkunft für neuankommende Asylsuchende zu – bis dahin gab es überhaupt keine Flüchtlingsunterkunft in Reinickendorf. Auch die zweite Sammelunterkunft wurde erst nach langwierigen Verhandlungen eröffnet. Baustadtrat Martin Lambert (CDU) hatte sich, angetrieben von der flüchtlingsfeindlichen „Pro Marie Schlei Haus“, vehement gegen das neue Wohnheim gesperrt – www.tagesspiegel.de/berlin/fluechtlingsheim-kein-asyl-in-wittenau/7814720.html

Anfang Mai nahm das LAGeSo zur Vermeidung akut drohender Obdachlosigkeit kurzfristig ein leeres Krankenhausgebäude in Reinickendorf als Sammelunterkunft für Flüchtlinge in Betrieb. Noch am selben Tag ließ der Baustadtrat Flugblätter verteilen, mit denen er die AnwohnerInnen zum Protest gegen die neue Unterkunft aufforderte:
www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Lambert_Kein_Asyl_KaBoN.pdf

Am 4. Juni 2013 verhängte das Bezirksamt Reinickendorf über das neu eröffnete Flüchtlingsheim im Marie Schlei Haus eine Quarantäne. Acht der 80 dort lebenden Kinder hatten Windpocken. Allen 180 Bewohnern – egal ob infiziert oder nicht – wurden jedes Verlassen des Hauses, Einkäufe, Behördengänge und selbst Arztbesuche verboten. Nachdem die AWO, Betreiberin der Unterkunft, eine Untersuchung des Immunstatus veranlasste, wurde die Quarantäne auf ca. 80 Flüchtlinge beschränkt, deren Immunstatus nicht untersucht worden oder negativ war, sowie auf Säuglinge, da deren Immunstatus nicht untersucht werden konnte.

Das Verwaltungsgericht Berlin erklärte die Maßnahme mit Beschluss vom 17. Juni 2013 für rechtswidrig: Die gemeinsame „Quarantäne“ Kranker mit Infektionsgefährdeten sei nach Infektionsschutzgesetz (IFSG) nicht sachgerecht. Ein Flüchtlingswohnheim sei anders als ein Krankenhaus oder ggf. eine einzelne Wohnung auch kein zulässiger Ort für eine Quarantäne:
www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/VG_Berlin_keine_Quarantaene_Windpocken.pdf

„Die populistische Quarantäneanordnung des Bezirksamts war fachlich und politisch im höchsten Maße unverantwortlich“, kommentiert Georg Classen, Sozialrechtsexperte des Flüchtlingsrats Berlin. „BewohnerInnen ohne Immunschutz wurden ungeachtet ihres Alters und Gesundheitszustandes durch die gemeinsame Quarantäne mit den Erkrankten gezwungen, sich dem Infektionsrisiko auszusetzen. Bis heute wurden und werden medizinisch gebotene Maßnahmen zum Schutz besonders vulnerabler Personen (z.B. Säuglinge, Schwangere ohne Immunschutz) sowie eine räumliche Trennung von den Erkrankten, Riegelimpfungen oder Immunglobulingaben weder angeboten noch durchgeführt.“

Entgegen dem Beschluss des Verwaltungsgerichts setzte das Bezirksamt bis zum späten Abend des 20. Juni die rechtswidrige Quarantäne-Maßnahme mit Hilfe der Polizei durch.

„Das Verhalten des Baustadtrats Lambert, des Gesundheitsamtes und des in Vertretung des Gesundheitsstadtrats handelnden Sozialstadtrats Höhne ist inakzeptabel. Mit ihrer Blockade gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und der völlig abwegigen Quarantänemaßnahme haben sie sich politisch disqualifiziert. Statt eine flüchtlingsfeindliche Wählerschaft zu umwerben und rassistische Stimmungen zu befördern, müssen LokalpolitikerInnen sich ihrer Verantwortung zur Aufnahme schutzsuchender Menschen stellen und im Bezirk für die Unterstützung der Flüchtlinge werben“, so Classen weiter.

Der Flüchtlingsrat ruft AnwohnerInnen und LokalpolitikerInnen dazu auf, den schutzsuchenden Menschen Achtung und Respekt entgegenzubringen und ihnen bei ihrer Ankunft in Berlin behilflich zu sein.

Möglichkeiten gibt es viele: z.B. die Gründung von Initiativen, die ehrenamtlich Deutschunterricht und Hilfe bei der Wohnungssuche anbieten, Sachspenden für die Kinder oder ein Willkommensfest.

Pressekontakt:
Büro Flüchtlingsrat Berlin, Tel. 030-243445762 (am Di 25.06 erst ab ca 14.30 Uhr)
Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, Tel. 030- 694 67 46

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Hintergrundinformationen

1. Steigender Bedarf an Unterbringungskapazitäten und Initiativen gegen neue Heime

Asylsuchende Flüchtlinge finden in Berlin angesichts einer fehlenden Wohnungspolitik, eines immer schwierigeren Wohnungsmarktes und nicht an die Mietpreisentwicklung angepasster sozialhilferechtlicher Mietobergrenzen kaum noch Wohnungen. Von 2010 bis 2013 stieg die Zahl der insgesamt in Berlin lebenden asylsuchenden und geduldeten Flüchtlinge von etwa 10.000 auf ca. 13.000.

Die Zahl der mangels Wohnraum in Not- und Sammelunterkünfte eingewiesenen Flüchtlinge vervierfachte sich zugleich von 1.500 auf 6.000. Während noch vor drei Jahren ca. 85 % der asylsuchenden und geduldeten Flüchtlinge in Mietwohnungen lebten, sind es heute nur noch etwa 50 %. In der Folge gibt es statt seinerzeit sechs nunmehr etwa 30 Sammelunterkünfte für Flüchtlinge in der Stadt.

Während in Berlin hunderte grundsätzlich geeignete öffentliche und private Immobilien leer stehen – siehe – www.leerstandsmelder.de wehren sich BezirkspolitikerInnen mehr oder weniger erfolgreich gegen die Unterbringung Asylsuchender in ihrem Bezirk.

Hinzu kommen die vor allem von LokalpolitikerInnen der CDU in Rudow, Kreuzberg, Lichtenrade und Reinickendorf organisierten bzw. initiierten „Initiativen“ und Kampagnen gegen Flüchtlinge.

Die CDU Rudow und CDU-MdA Hans-Christian Hausmann organisierten Stimmungsmache gegen Asylsuchende mittels einer Bürgerversammlung in Rudow. Die NPD und rechtsextreme Kriminelle übernahmen die von der CDU gestartete Kampagne, es gab Anschläge u.a. gegen eine am Rand Neuköllns gelegene Flüchtlingsunterkunft.
http://bglbb.blogsport.de/2012/10/11/cdu-und-nazis-zusammen-gegen-fluechtlings-lager-in-suedberlinn
http://bglbb.blogsport.de/2012/10/12/hintergrund-zur-cdu-rudow-und-den-anschlag-auf-das-lager-wassmannsdorf-durch-nw-berlin/

In Kreuzberg organisierten der „integrationspolitische Sprecher“ der CDU, MdA Kurt Wansner, seine BVV-KollegInnen und der CDU-Bundestagskandidat des Wahlkreises die Stimmungsmache gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft. Inzwischen sei nach Aussage der Heimleitung die Unterstützung durch das Umfeld überwältigend, von der CDU aufgehetzte AnwohnerInnen hätten sich persönlich entschuldigt.
www.cl-netz.de/foren/cl.politik.migration/CDU-Kreuzberg-macht-bei-Buergerversammlung-Stimmung-gegen-Asylbewerberheim-Wahlkampf-gegen-Fluechtlinge%3F-93261.html
http://www.berliner-woche.de/nachrichten/bezirk-friedrichshain-kreuzberg/kreuzberg/artikel/8139-versammlung-zum-neuen-asylbewerberheim/?type=98.

In Tempelhof hatte CDU-MdB Jan-Marco Luszak Erfolg mit seiner Kampagne gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Seniorenheim. www.bz-berlin.de/archiv/lichtenrade-verhindert-neues-asyl-bewerberheim-article1642651.html
Auch die Grüne Stadträtin Klotz äußerte sich immer wieder skeptisch bis ablehnend gegen die Asylsuchenden.
www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/article113821846/Asylbewerberheim-kommt-nicht-nach-Lichtenrade.html

In Reinickendorf ist es u.a. CDU ex-MdA Ulrich Brinsa, der den Widerstand gegen Flüchtlingsunterkunft der AWO organisiert:
www.nord-berliner.de/index.php/nachrichten-wittenau/items/umwandlung-aus-rein-finanziellen-interessen.html

2. Quarantäne bei Windpocken-Infektionen?

Die Kinderkrankheit tritt regelmäßig in den Flüchtlingsunterkünften aller Bezirke auf – und nicht nur dort. Es ist richtig, ein ansteckendes Kind einige Tage zu Hause zu lassen. Grund für eine behördliche Quarantäneanordnung waren Windpocken aber noch nie. Fachleute für Infektionsschutz halten Windpocken-Quarantänen in Flüchtlingsunterkünften für abwegig, so die Auffassung des LaGeSo Berlin, der Senatsgesundheitsverwaltung und des dortige Referats Infektionsschutz, sowie der Amtsärzte der anderen Berliner Bezirke.

Der AWO Kreisverband Berlin-Mitte, der die betroffene Unterkunft in Reinickendorf betreibt, hat die Maßnahmen zutreffend als rechtswidrige Freiheitsentziehung bezeichnet.

Heimbetreiber: Quarantäne ist Freiheitsentzug

Die Berliner Amtsärzte halten Quarantäne bei Windpocken in Heimen nicht für notwendig.
www.berliner-zeitung.de/berlin/windpocken-quarantaene-heimbetreiber–quarantaene-ist-freiheitsentzug,10809148,23392234.html

Klemens Senger, der Vorsitzende des Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, hat eine deutliche Antwort auf die Frage, ob Quarantäne bei Windpocken sinnvoll ist: „Nein, sonst könnte man die halbe Republik einsperren“.

Kommentar Berliner Zeitung: Keine Polizei bei Windpocken!
www.berliner-zeitung.de/berlin/stadtbild-keine-polizei-bei-windpocken-,10809148,23394046.html

„Stellen Sie sich vor, Ihr Kind hat Windpocken und das Gesundheitsamt postiert Polizei vor Ihrer Haustür, um sicherzustellen, dass Sie Ihre Wohnung nicht verlassen. Schließlich sind Sie womöglich eine Gefahr, ansteckend eben. Sie können sich das nicht vorstellen?….

Seit Ende vergangener Woche stellt die Polizei sicher, dass die Einrichtung in Wittenau wirklich nur verlässt, wer per Bluttest bewiesen hat, dass er geimpft ist oder schon Windpocken hatte. Denn dann kann er die Krankheit nicht übertragen. ….

Trotz der berlinweiten Einigung auf eine anderslautende Regelung hatte der Bezirk sogar die Stirn, die Polizei vors Haus zu beordern. Im Namen des Volkes sozusagen. Man fragt sich, was für ein Denken hinter so etwas steckt. Soll den Flüchtlingen das Leben schwer gemacht werden? Soll ihnen klar gemacht werden, dass sie inmitten der Wittenauer Einfamilienhäuser nicht erwünscht sind?“

3. AnwohnerInnen-Initiativen zur Unterstützung Asylsuchender

Positive Beispiele gibt es aus Wandlitz und aus dem Berliner Westend zu berichten.

Refugees Welcome – Flüchtlinge willkommen!“

Aus „Bürgerprotesten“ gegen ein neues Flüchtlingsheim ist inzwischen eine Kampagne „Flüchtlinge willkommen – Refugees welcome“ geworden. Als schließlich die NPD auf den Plan trat zeigten die WandlitzerInnen dagegen phantasievoll ihren Widerstand!

Die Wandlung der Wandlitzer
www.tagesspiegel.de/berlin/die-wandlung-der-wandlitzer/7797784.html
Willkommens-Aufkleber an den Geschäften
www.moz.de/details/dg/0/1/1083758

Wandlitzer stehen zum Flüchtlingsheim
http://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/1151140
http://oberhof.blog.de

Das Beispiel Westend

Westend heißt Flüchtlinge doch noch willkommen
www.berliner-zeitung.de/berlin/fluechtlingsunterkunft-westend-heisst-fluechtlinge-doch-noch-willkommen,10809148,23300212.html

„Am Ende des Abends hielt Suada Dolovac einen Fächer kleiner, bunter Kärtchen in der Hand und strahlte: Visitenkarten von Kirchengemeinden, Sprachschulen, dem Bezirkselternausschuss-Kita, aber auch von Privatleuten, die mitmachen wollen. Mitmachen bei der Angeboten für bis zu 230 Flüchtlinge aus aller Welt, die in den nächsten Wochen in einem Verwaltungsgebäude in der Soorstraße im Charlottenburger Ortsteil Westend unterkommen sollen: unentgeltlich Sprachkurse geben, Kinder betreuen, zu Festen in der Kleingartenkolonie oder im Fußballverein einladen, sich einfach blicken lassen, um den neuen Nachbarn zu zeigen: Ihr seid nicht allein.“

Anwohner solidarisieren sich mit Flüchtlingen

„Zunächst gab es eine Unterschriftenaktion der Anwohner gegen das Asylbewerberheim in Westend. Nun formiert sich Gegenprotest: Freiwillige melden sich, um den Flüchtlingen an der Soorstraße zu helfen.“

Flyer der AnwohnerInneninitiative „Willkommen im Westend





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