30.05.2002: Chipkarte oder Bargeld?

Zur sozialen Lebenssituation von Flüchtlingen nach über 100 Tagen Rot-Roter Koalition

Am 15. Mai 2002 war die Staatssekretärin der Senatsverwaltung für Soziales und Gesundheit, Frau Petra Leuschner, auf der Sitzung des Flüchtlingsrates Berlin zu Gast.


Die anwesenden ca. 50 Vertreter/innen von Beratungsstellen und Migrantenorganisationen erhofften sich konkrete Aussagen, zu den Absichtserklärungen der Rot – Roten Koalition die sozialen Lebensumstände von Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen in der Stadt zu verbessern. So hatte das Abgeordnetenhaus am 18. März 2002 im Vorfeld der Abstimmung im Bundesrat zum Zuwanderungsgesetz u.a. beschlossen, das bestehende System der Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auf den Prüfstand zu stellen, um die Leistungen in Bargeld auszahlen zu können.

Aktueller Hintergrund für die auf der Sitzung des Flüchtlingsrates vorhandenen Erwartungen an die Politik des Senates bildete das Auslaufen des Vertrages des Landes Berlin mit der Firma SODEXHO zur Anwendung der Chipkarte (Infracard) bei der sozialen Versorgung von Asylbewerbern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass von dieser Regelung nur die ca. 3000 in Gemeinschaftsunterkünften lebenden Asylbewerber betroffen sind. Für die Versorgung der Mehrzahl der in der Stadt lebenden Flüchtlinge (ca. 22 000) tragen die Bezirke die Verantwortung. Trotzdem erhoffte sich der Flüchtlingsrat von einer Entscheidung des Senates, auf die Chipkarte künftig zu verzichten, eine politische Signalwirkung.

Auf diese kann nach den Aussagen der Staatssekretärin weiter gewartet werden. Der Vertrag wurde gegenüber SODEXHO nicht rechtzeitig gekündigt, der Vertrag verlängert sich ab 01. Juli 2002 automatisch um ein Jahr. Grund dafür sind nicht verspätete Reaktionen von Verwaltungsmitarbeitern, sondern die ablehnende Haltung der SPD, ungeachtet des von Frau Leuschner betonten politischen Willens der PDS zur Abschaffung der Chipkarte.

Somit können die betroffenen Flüchtlinge auch künftig mit der von dem französischen Unternehmen geschaffenen Chipkarte nur in ausgewählten (ca. 80 Geschäften) in Berlin einkaufen. Diese sind in einigen Bezirken nur mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen und nicht in unmittelbarer Nähe der Wohnheime gelegen. Die Flüchtlinge können mit der Chipkarte nicht in den Genuss von Sonderangeboten kommen oder Schulmaterial für ihre Kinder kaufen, ganz zu schweigen von Anwaltsgebühren, die bei der Vertretung in Asylverfahren fällig werden.

Mit dieser alltäglichen Diskriminierung von Flüchtlingen sind deren Berater/innen und Betreuer/innen seit Jahren konfrontiert. Der damit verbundene Erwartungsdruck gegenüber dem Senat, politisch aktiv zu werden, wurde auch auf der Flüchtlingsratssitzung deutlich.

Die Staatssekretärin konnte deshalb keinen Beifall ernten, als sie auf nur kosmetische Veränderungen des neuen Vertrages zum Einsatz der Chipkarte hinwies. So wurde mit der Supermarktkette „Real“ ein neues Unternehmen in den Kreis der Vertragspartner aufgenommen, Discountmärkte wie „Aldi“ oder Lidl“ gehören aber weiter zu den Einkaufsmöglichkeiten, die Flüchtlingen versperrt bleiben.

Entscheiden ist für den Flüchtlingsrat Berlin auch nicht allein die Kostenfrage (allein im Bezirk Spandau könnten bei einem Verzicht auf die Chipkarte 65 000 EURO jährlich eingespart werden). Die Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes, das auf Bundesebene im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes leider nicht in Frage gestellt wurde, ist aus Sicht der Flüchtlingsberater/innen vor allem ein Problem der strukturellen Ausgrenzung von Flüchtlingen, der Verhinderung ihrer Integration.

Dem trägt ein Vorschlag der Senatsverwaltung nicht Rechnung, Flüchtlinge künftig in von der Verwaltung komplett anzumietenden Wohnblöcken unterzubringen, um auf diesem Weg den mehrmaligen Vorgaben des Abgeordnetenhauses zur Möglichkeit für Flüchtlinge, in Privatwohnungen zu leben, Rechnung zu tragen. Mit diesem juristischen Kunstgriff soll nach Rechtsauffassung der Senatsverwaltung dem im Asylbewerberleistungsgesetz verankerten Prinzip des Vorrangs von Sachleistungen Rechnung getragen werden. Auf der Sitzung des Flüchtlingsrates wurden demgegenüber Befürchtungen laut, dass mit der Unterbringung von Flüchtlingen in einzelnen Wohnblock die weitere Ghettoisierung von Flüchtlingsunterkünften droht. Das Sachleistungsprinzip muss nicht zum Dogma erhoben werden, allein in Berlin leben bereits ca. 6200 Leistungsberechtigte in Wohnungen. Die Erfahrungen anderer Bundesländer (Bremen, Hamburg, Sachsen-Anhalt, NRW und Rheinland-Pfalz) zeigen, dass die Gewährung von Barleistungen an Flüchtlinge möglich ist. Letztlich sollten die Flüchtlinge selbst gehört werden, die eher zusammen mit Deutschen in einem Haus wohnen möchten, als isoliert von der übrigen Gesellschaft.

Die Teilnahme an der Flüchtlingsratssitzung war für die Staatssekretärin der „erste Kontakt“ mit den an der Basis tätigen Initiativen und Organisationen. Diese sind wie der Flüchtlingsrat Berlin bereit, mit dem Senat den konstruktiven Dialog fortzusetzen, z.B. auch im Rahmen einer noch zu schaffenden Landeskommission für Integration und Migration.

Diese für beide Seiten wichtige Zusammenarbeit wird aber zunehmend durch die aktuelle Haushaltspolitik des Senates in Frage gestellt. Viele freie Träger der sozialen Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten befinden sich in einer sehr ernsten finanziellen Lage, da Stellen auf der Basis von Lohnkostenzuschüssen (SAM) von Seiten des Senates nicht mehr finanziert werden.

Der Flüchtlingsrat Berlin sieht einen Ausweg aus dieser Situation, der darin besteht, die Einsparungen, die mit dem Abbau von Restriktionen gegen über Flüchtlingen verbundenen Einsparungen (Verzicht auf die Chipkarte, Unterbringung in Privatwohnungen) den Initiativen und Vereinen zukommen zu lassen, die im Interesse der Integration von Migranten seit Jahren eine kompetente Arbeit leisten.

Jens–Uwe Thomas
Flüchtlingsrat Berlin





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