06.06.2019: Liste der Grausamkeiten – was ist für die SPD ein Kompromiss?
Was hat die SPD da eigentlich „verhandelt“? Eine lesenswerte Zusammenstellung von Claudius Voigt, GGUA Münster.
Liebe Kolleg*innen,
die SPD-Innenpolitiker*innen der Bundestagsfraktion haben in ihren Verhandlungen mit der Union kläglich versagt. Die Rechtsausleger*innen von CSU/CDU haben am Montag noch weitgehende Verschärfungen in die bereits extrem restriktiven Gesetzesentwürfe hineinverhandelt (hier, hier, und hier), so dass nun in fast allen Bereichen wieder der Stand des ursprünglichen Referent*innen-Entwurfs zum „Geordnete-Entrechtungs-Gesetz“ erreicht worden ist. Die SPD verkauft dies nun allen Ernstes als „guten Kompromiss“ und bittet die Bundestagsabgeordneten in einem zehnseitigen „Liebe Freund*innen-Brief“ um Zustimmung: „Es ist uns gelungen, ein Gesamtpaket zu schnüren, das die richtige Balance findet zwischen Humanität und Realismus, Idealismus und Pragmatismus, Chancen geben und klaren Regeln, wer bleiben kann und wer unser Land verlassen muss.“
Das Gegenteil ist der Fall! Schon die Kabinettsbeschlüsse waren ein mieser Kompromiss. Wie nun aus einem ursprünglich miesen Kompromiss mit noch vielen zusätzlichen Verschlechterungen und Verschärfungen wundersamerweise ein „guter Kompromiss“ geworden sein soll, bleibt schleierhaft. Es deutet einiges darauf hin, dass die sozialdemokratischen Verhandlungsführer*innen entweder den Wesensgehalt des Begriffs „Kompromiss“ nicht wirklich verstanden haben oder unter einem erheblichen Schwund an Urteilsvermögen leiden. Oder – schwer vorstellbar: Sie halten tatsächlich für richtig, was da nun beschlossen werden soll. Dann aber würde die SPD sich dem Weg der dänischen Genoss*innen anschließen und auf eine offen reaktionäre Migrationspolitik einschwenken.
Die SPD will jetzt – im Rahmen eines unwürdigen und völlig inakzeptablen parlamentarischen Schnellverfahrens – folgendem zustimmen:
- Zwingende Lagerunterbringung von Asylsuchenden bis zu 18 Monate in Landesaufnahmeeinrichtungen oder AnkER-Zentren, nach Ablehnung des Asylantrags und in vielen anderen Fällen auch unbefristet (Ausnahme: Familien mit Kindern sechs Monate).
- „Ausreisegewahrsam“ (also Abschiebungshaft) bereits dann, wenn die Ausreisepflicht um 30 Tage überschritten worden ist (das betrifft fast alle).
- Verlängerung der eingeschränkten AsylbLG-Grundleistungen von 15 auf 18 Monate.
- Ausschluss aller Geduldeten von der Beschäftigungsduldung, die nach 1. August 2018 eingereist sind.
- Drei Monate Wartezeit für die Ausbildungsduldung, in denen die Abschiebung versucht werden soll. Ursprünglich waren sechs Monate geplant, daher verkauft die SPD die „Verkürzung“ als Erfolg – und vergiss dabei, dass dies dennoch eine Verschlechterung zur aktuellen Rechtslage ist.
- Als weiteren Erfolg verkauft die SPD die Einführung einer „unabhängigen“ Asylverfahrensberatung. Im Gesetz steht aber: „freiwillige, unabhängige, staatliche Asylverfahrensberatung durch das BAMF“. Nach Belieben darf auch Wohlfahrtsverbänden der Auftrag für die Beratung erteilt werden. Das ändert nichts am Status quo, ist also keine Verbesserung.
- Für über 45jährige Fachkräfte wird im Fachkräfteeinwanderungsgesetz eine Mindesteinkommensgrenze eingeführt, die bei ungefähr 44.000 Euro liegen wird. Dies kommt einem faktischen Einreiseverbot für viele ältere Fachkräfte gleich.
Bereits im Kabinettbeschluss hatte die SPD sich auf folgende Verschärfungen eingelassen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- Vollständige Leistungsausschlüsse für in anderen EU-Staaten anerkannte international Schutzberechtigte, die in Deutschland „vollziehbar Ausreisepflichtig“ sind und denen rechtswidrig eine Duldung verweigert wird – ein Aushungern ohne Leistungen für Essen, Unterbringung usw. Dies betrifft auch Familien mit Kindern und andere Schutzbedürftige, die somit in Deutschland in die Obdachlosigkeit gezwungen werden sollen. Damit wird Deutschland sich an einem Unterbietungswettbewerb mit den anderen Unionsstaaten wie Ungarn, Italien, Bulgarien, Griechenland im Hinblick auf die größtmögliche soziale Entrechtung beteiligen. Wer dort im Elend gelebt hat, soll auch in Deutschland im Elend leben und gezwungen werden, in das ihm zugewiesene europäische Elend zurückzukehren.
- Drastische Ausweitung der Sanktionstatbestände im AsylbLG auf zahllose Fälle,Verweigerung des menschenwürdigen Existenzminimums für große Personengruppen.
- Einführung einer „Duldung light“ für Personen, die aus Sicht der ABH nicht an Identitätsklärung und Passbeschaffungspflichten mitwirken. Es handelt sich um einen Status der weitgehenden Entrechtung mit zwingenden Arbeitsverboten, Residenzpflicht, Integrationsverboten.
- Inhaftierungsprogramm durch maßlose Ausweitung der Abschiebungshaft
- Erfindung eines „Notstands“ und mit dieser Begründung europarechtswidrig gemeinsame Unterbringung von Abschiebungsgefangenen mit Strafgefangenen.
- Kriminalisierung von gesellschaftlicher Solidarität durch Erklärung von Abschiebungsterminen zum „Dienstgeheimnis“, deren Weitergabe für Behördenmitarbeitende eine Straftat darstellen würde. Auch die Beihilfe zum Geheimnisverrat durch NGOs könnte darunterfallen.
- Bußgeld von bis zu 5.000 Euro bei Verletzung der Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung
- Ausweitung der Arbeitsverbote
- Verunsicherung des Status auch anerkannter Flüchtlinge durch Verlängerung der Widerrufsfristen
- Verhinderung von Integration und Selbstbestimmung anerkannter Schutzberechtigter durch Entfristung und Verschärfung der Regelungen zur Wohnsitzauflage
- Leistungskürzungen für alle AsylbLG-Berechtigten in Gemeinschaftsunterkünften um 10 Prozent
- Gesetzlich vorgeschriebene Ausschlüsse von Sozialleistungen für arbeitsuchende ausländische Fachkräfte,
- Streichung des Kindergelds für arbeitsuchende und nicht erwerbstätige Unionsbürger*innen.
Die SPD rechtfertigt all das mit der
- Einführung eines restriktiv ausgestalteten und einseitig an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientierten Fachkräfteeinwanderungsgesetzes,
- Erleichterungen bei der Ausbildungsförderung und der Sprachförderung und
- Schließung der Förderlücke im AsylbLG bei Ausbildungen.
Verfassungsmäßig vorgeschriebene Grundrechte, humanitäre Erwägungen werden also aus rein wirtschaftlichen Nützlichkeitskalkülen im Interesse der wirtschaftlichen Verwertungslogik aufgegeben. Dass die deutsche Sozialdemokratie sich anschickt, dabei mitzumachen und diesen zugleich neoliberalen wie im Ergebnis national-chauvinistischen Umbau der Gesellschaft auch noch offensiv als „Erfolg“ zu verkaufen, lässt eine*n einigermaßen fassungslos zurück.
Vielleicht würde sich ein Blick in die Geschichte lohnen: So hat Karl Liebknecht bereits im Jahr 1907 in einer Rede beim SPD Parteitag in Essen „die Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalte im Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen“, gefordert. Vielmehr müsse das Ziel sein „die „völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in Bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande. Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung!“
Es scheint, die SPD war vor über 100 Jahren schon mal weiter. Falls es eines Anlasses für den Bruch der GroKo braucht: Einen besseren als am Freitag in der Abstimmung über das „Geordnete-Entrechtungs-Gesetz“ wird es nicht geben.
Liebe Grüße
Claudius
—
Claudius Voigt
Projekt Q – Büro zur Qualifizierung der Flüchtlings- und Migrationsberatung
Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e. V.
Hafenstraße 3 – 5
48153 Münster
Tel.: 0251 14486 – 26
Mob.: 01578 0497423
Fax: 0251 14486 – 10
www.ggua.de