Veröffentlicht am 14.05.2020

13.05.2020: Europarechtswidrig getrennte Familien in der gerichtlichen Endlosschleife?

Gemeinsame Pressemitteilung des AK Junge Flüchtlinge des Flüchtlingsrat Berlin e.V. und des Beratungs- und Betreuungszentrums für junge Geflüchtete und Migrant*innen (BBZ)

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Zwei Jahre nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auch nach ihrem 18. Geburtstag das Recht auf Familiennachzug haben, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht: Ob dieses Urteil auch für Deutschland gilt, das soll nun wieder der EuGH entscheiden. Bis dort entschieden wird, kann es jahrelang dauern. So wird weiter auf Zeit gespielt, auf dem Rücken von Familien, die schon seit Jahren europarechtswidrig getrennt sind. Der AK Junge Flüchtlinge und das BBZ fordern: Das Auswärtige Amt muss die Rechtsprechung des EuGH ohne Wenn und Aber umsetzen und den Familiennachzug endlich ermöglichen! Es kann nicht sein, dass europäische Rechtsprechung immer dann in Frage gestellt wird, wenn sie zu Gunsten Geflüchteter ausfällt.[1]

Zum Hintergrund:

Am 12.04.2018 entschied der EuGH: Unbegleitete Minderjährige, bei denen die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention festgestellt wird, haben einen Anspruch auf Elternnachzug. Das gilt auch, wenn sie während eines möglicherweise jahrelangen Asylverfahrens volljährig geworden sind.[2]

Das Gericht stützte seine Entscheidung auf das EU-Recht. So sind die EU-Staaten bei der Anwendung der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie auf den Elternnachzug zu anerkannten Flüchtlingen an Gleichbehandlung und Rechtssicherheit gebunden. Würde es auf den Zeitpunkt der behördlichen Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ankommen, hätte dies zur Folge, dass zwei unbegleitete Minderjährige gleichen Alters, die am gleichen Tag einen Asylantrag stellen, je nach der Bearbeitungsdauer dieser Anträge unterschiedlich behandelt werden würden, ohne dass sie hierauf irgendeinen Einfluss hätten. Im Gegensatz dazu ermöglicht es das Anknüpfen an den Zeitpunkt des Asylantrags, eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller zu gewährleisten.

Das Auswärtige Amt weigert sich jedoch bis heute, bei der Erteilung von Visa zum Familiennachzug das EuGH-Urteil umzusetzen. Die deutschen Auslandsvertretungen behaupten, das Urteil des EuGH entfalte für Deutschland „keine Bindungswirkung“, da der Kläger in den Niederlanden lebte. Dabei beruht das EuGH-Urteil gerade nicht auf der Auslegung niederländischen Rechts, sondern auf der verbindlichen Auslegung von EU-Recht.

Gegen eine solche Ablehnung des Visums klagen ein mittlerweile 20-jähriger als Flüchtling anerkannter Syrer und seine Mutter. Das Verwaltungsgericht Berlin gab ihnen mit Urteil vom 01.02.2019[3]unter Verweis auf das EuGH-Urteil Recht und verpflichtete das Auswärtige Amt, der Mutter ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen.

Auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigt in zwei Beschlüssen,[4] dass mit Blick auf das EuGH-Urteil vom 12.04.2018 die Eltern eines unbegleiteten Minderjährigen auch nach dessen 18. Geburtstag Anspruch auf Erteilung eines Visums und einer Aufenthaltserlaubnis haben werden.

Statt das Urteil des VG Berlin zu akzeptieren und der Mutter des jungen Syrers das Visum zu erteilen, ging das SPD-geführte Auswärtige Amt in Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht. Dort entschieden die Richter*innen nach mehr als einem Jahr am 23.04.2020, nochmals den EuGH anzurufen, um klären zu lassen, ob die vom EuGH für ausreichend erklärte Minderjährigkeit im Zeitpunkt des Asylantrags auch zum Recht auf Familiennachzuge führt, wenn – wie nach deutschem Recht – den Eltern ein Aufenthaltsrecht zur Familienzusammenführung nur bis zur Volljährigkeit des Kindes zusteht.[5]

Den Ball wieder zurück zum EuGH zu spielen, anstatt selbst eine Entscheidung zu treffen, ist ein Skandal und einfach nur feige,“ so Walid Chahrour, Sprecher des Arbeitskreises Junge Flüchtlinge, „hier wird Zeit geschunden auf dem Rücken der Geflüchteten und ihrer Familien und EuGH-Rechtsprechung bewusst ignoriert.

Bis das EuGH dem Bundesverwaltungsgericht und dem Auswärtigen Amt wohl mitteilen wird, dass sein Urteil von 2018 auch für Deutschland rechtlich bindend ist, werden weitere Jahre vergehen. Die getrennten Familien werden in Endlosschleifen von Gerichtsprozessen verwickelt zu Fragen, die der EuGH bereits 2018 geklärt hat.

Es entsteht der Eindruck, dass das Auswärtige Amt mit allen juristischen Mitteln verhindern will, europäische Rechtsprechung zu Gunsten der jahrelang getrennten Familien umsetzen zu müssen“, so Sebastian Muy, Sozialarbeiter im BBZ, „dieser Familiennachzugsverhinderungskurs verhöhnt sowohl die betroffenen Familien als auch den EuGH. Effektiver Rechtsschutz geht anders.“

Dabei ist es angesichts der Auswirkungen der Corona-Krise umso dringender, hier so schnell wie möglich klarzustellen: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben ein Recht auf Familiennachzug, und zwar auch dann, wenn sie 18 Jahre alt werden und ihre Angehörigen wegen geschlossenen Auslandsvertretungen und gestrichenen Flugverbindungen vorher nicht einreisen können. Der Familiennachzug darf nicht aufgrund von Umständen verwehrt werden, auf die die Jugendlichen und ihre Familien keinen Einfluss haben.

Wir fordern daher das Auswärtige Amt auf, bis zur neuerlichen Entscheidung des EuGH den Eltern von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen Visa zu erteilen, auch wenn diese während oder nach ihrem Asylverfahren volljährig geworden sind. Entsprechende Ablehnungsbescheide müssen abgeändert werden.

Pressekontakt:
Sebastian Muy, s.muy@kommmitbbz.de, 0151 17565777

[1]Siehe PM vom 5.12.2020: https://fluechtlingsrat-berlin.de/5.12.18_pressemitteilung-der-landesfluechtlingsraete

[2]EuGH, Urteil vom 12.04.2018 – C-550/16, www.asyl.net/rsdb/m26143/

[3]VG Berlin, Urteil vom 01.02.2019 – 15 K 936.17 V, www.asyl.net/rsdb/m27094/

[4]OVG 3 S 47.18, OVG 3 M 52.18, www.asyl.net/rsdb/m26617/

[5]Bundesverwaltungsgericht, 1 C 16.19 – Beschluss vom 23.04.2020, Pressemitteilung: www.bverwg.de/pm/2020/17





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