11.06.2020: Berliner Behörden ignorieren Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts zum Schutz Geflüchteter in Sammelunterkünften
Pressemitteilung Flüchtlingsrat Berlin vom 11.06.2020
Seit Beginn der Corona-Pandemie hat der Flüchtlingsrat Berlin gemeinsam mit Initiativen Wohnungsloser ebenso wie die übrigen Landesflüchtlingsräte immer wieder vor den Folgen der Massenunterbringung von Geflüchteten und von Wohnungslosen während der Corona -Pandemie gewarnt.[1]
Nun stellt sich heraus, dass den Ländern seit Anfang Mai 2020 ein Empfehlungspapier des Robert-Koch-Instituts[2] vorliegt, das unsere Befürchtungen teilt und ähnliche Maßnahmen fordert wie wir. In dem unveröffentlichten, den Landesaufnahmebehörden aller Bundesländer vorliegenden Papier gibt das RKI Handlungsempfehlungen zum Umgang mit der Unterbringungssituation in Flüchtlingsunterkünften während der Pandemie.
„Es ist typisch für Behörden und Politik, dass sie den Empfehlungen des RKIim Umgang mit der Pandemie in allen Bereichen folgen, diese aberignorieren und unter Verschluss halten, wenn es um Geflüchtete geht. Während die restliche Bevölkerung immer wieder darauf eingeschworen wird, sich an dieEmpfehlungen des RKI zu halten, hat kein Bundesland, auch nicht das rot-rot-grüneBerlin, die EmpfehlungenfürGeflüchtete in Massenunterkünftenumgesetzt, sondern diese im Gegenteil einfach ignoriert,“ erklärt Nora Brezger vom Flüchtlingsrat Berlin.
Die derzeit geringen Zahlen von Neuinfektionen müssen unverzüglich dazu genutzt werden, die Empfehlungen des RKI-Papiers umzusetzen, nachdem es öffentlich geworden ist. Schockierend ist, dass das Papier des RKI erst durch NGOs und Medien geleakt wurde, während die RKI-Empfehlungen für die restliche Bevölkerung öffentlich zugänglich sind.
Die Tagesschau berichtete am 10. Juni 2020[3] über das RKI Papier sowie eine Studie der Uni Bielefeld, die sich kritisch über unzureichende Eindämmung der Pandemie in Sammelunterkünften äußert[4]: „Kommt es in einer Flüchtlingsunterkunft zu einer Corona-Infektion, ist das Ansteckungsrisiko dort so hoch wie auf einem Kreuzfahrtschiff. […….]. Während die Bundesregierung jedoch von Reisen auf solchen Luxusdampfern abrät, hält Deutschland grundsätzlich an Gemeinschaftsunterkünften für neuankommende Schutzsuchende fest.“
Die Empfehlungen des RKI enthalten präventive Maßnahmen wie auch Maßgaben zum akuten Krisenmanagement. Beim Lesen wird deutlich: Dem differenzierten Maßnahmenkatalog – insbesondere was präventive Schritte angeht – ist kein Bundesland gefolgt. Auch das rot-rot-grüne Berlin nicht, obwohl die Gefahren offensichtlich sind.
Wir fordern den Berliner Senat (Senatsverwaltungen Integration und Gesundheit), die Bezirksämter (Soziale Wohnhilfen als Unterbringungsbehörden nach ASOG und die Gesundheitsämter) und das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten LAF (Unterbringungsbehörde nach AsylbLG) auf, die Empfehlungen des RKI unverzüglich umzusetzen. Mittelfristig muss auch Berlin ein Konzept vorlegen, für alle Geflüchteten und Wohnungslosen das Leben in normalen Wohnungen statt in Sammelunterkünften zu gewährleisten. Vorbild kann der Beschluss der Potsdamer Stadtverordnetenversammlung vom 3.6.2020 sein für ein Konzept, alle Massenunterkünfte aufzulösen und die Menschen stattdessen in Wohnungen unterzubringen.[5]
Pressekontakt:
Büro Flüchtlingsrat Berlin Tel. 030 22476311 (lange klingeln lassen wg. Homeoffice)
Kommentierter Auszug RKI-Papier
Risikopersonen
„Personen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf der Erkrankung werden frühzeitig identifiziert und präventiv mit ihren Familienangehörigen für die Dauer der gesamten Pandemie in einer gesonderten und geeigneten Unterkunft untergebracht, in der Kontaktreduktion und Selbstisolation möglich ist und für den täglichen Bedarf gesorgt werden kann.“
Dies ist in Berlin nicht geschehen. Angehörige der Risikogruppen verbleiben in Sammelunterkünften, selbst wenn diese unter Vollquarantäne gesetzt wurde.
Kommunikation
„BewohnerInnen und Personal (z.B. MitarbeiterInnen, aber auch Ehrenamtliche und externe DienstleisterInnen) müssen präventiv umfassend mündlich und schriftlich und für Menschen mit wenig Deutschkenntnissen mit Sprachmittlung über die Erkrankung, allgemeine Schutzmaßnahmen und Verhalten im Erkrankungsfall aufgeklärt werden. Informationen dienen der Vorbeugung von Ängsten, Unsicherheiten und Missverständnissen und ermöglichen gezielte Prävention.“
Den Flüchtlingsrat erreichen zahlreiche Hilferufe von Geflüchteten aus Unterkünften, die keine oder nur sehr wenig Informationen erhalten haben, wenn es zu Infektionsfällen oder Quarantänen gekommen war. Die Menschen hatten panische Angst, sich anzustecken. Schriftliche Bescheide der Gesundheitsämter zu Grund und Dauer der Quarantäneverfügungen gab es in der Regel garnicht – und wenn dann nur auf Deutsch.
Einteilung in Gruppen
Auch für den Fall eines Ausbruchs der Pandemie gibt das RKI-Papier Hinweise. So sollen die Menschen in die eingeteilt werden, die infiziert sind, jene, die als Verdacht gelten und als dritte Gruppe Nicht-Fälle. Die strikte Trennung bzw. „Absonderung“ dieser Gruppen ist bereits in § 30 Infektionsschutzgesetz zwingend vorgeschrieben.[6] Gegen die Vorschriften des § 30 IFSG haben jedoch LAF, Betreiber und Gesundheitsämter in Berlin immer wieder verstoßen, wenn es um Flüchtlingsunterkünfte geht. Häufig fehlt in Berlin auch die konkrete Ermittlung von Kontaktpersonen. Bei Quarantänen für komplette Sammelunterkünfte wurden die Menschen teils überhaupt nicht zu ihren Kontakten befragt, sondern pauschal verfügt, wer als Kontaktperson gilt und wer nicht.
[1]Diverse Pressemitteilungen Flüchtlingsrat Berlin ab 19. März 2020: www.fluechtlingsrat-berlin.de/aktuelles/presse/
Gemeinsame Pressemitteilung 11. April 2020 „Massenunterkünfte auflösen!“
www.ak-wohnungsnot.de/news/gemeinsame-pressemitteilung-massenunterkuenfte-aufloesen
Gemeinsame Pressemitteilung mit Wohnungsloseninitiativen usw. 22. April 2020: 10 Punkte Soforthilfeplan #LeaveNoOneBehindNowhere: www.wohnungslosentreffen.de/berlin-10-punkte-nothilfeplan.html
[2]https://fluechtlingsrat-berlin.de/2020-05-07-rki-hinweise_covid-19_in_unterkuenften
[3]www.tagesschau.de/chinese/coronavirus-fluechtlinge-101.html
[4]https://pub.uni-bielefeld.de/record/2943665
[5]PNN 4.6.2020: Keine Gemeinschaftsunterkünfte mehr – Eigene Wohnungen für Geflüchtete in Potsdam www.pnn.de/potsdam/keine-gemeinschaftsunterkuenfte-mehr-eigene-wohnungen-fuer-gefluechtete-in-potsdam/25889126.html
[6]www.gesetze-im-internet.de/ifsg/__30.html