Veröffentlicht am 21.12.2020

21.12.2020: Berlin schiebt ab – trotz Pandemie, Lockdown, Winter und Krieg

Pressemitteilung vom 21.12.2020


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Während des Lockdowns im Frühjahr waren Abschiebungen aus Berlin ausgesetzt. Nunmehr scheinen Pandemie und Lockdown egal. Seit Juli schiebt Berlin sogar vermehrt ab, überall hin, solange es nur technisch möglich ist.[i]Die Infektionslage hier und im Zielstaat spielt offenbar keine Rolle mehr. Coronatests bei Abschiebungen gibt es nur, wenn der aufnehmende Staat es verlangt.[ii]

Mehrmals monatlich organisiert Berlin Sammelcharter nach Moldawien und in den Westbalkan. Abgeschoben werden vor allem Angehörige der Roma-Minderheit, die in diesen ärmsten Ländern Europas oft kaum oder gar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Auch vor Abschiebungen nach Afghanistan, dem laut Global Peace Index 2020[iii] gefährlichsten Land der Welt, schreckt Berlin nicht zurück.

Gleich am ersten Tag des Lockdowns, dem 16.12. wurden zwei junge Männer aus der Jugendstrafanstalt (JSA) Plötzensee nach Afghanistan abgeschoben. In der JSA gab es offenbar mehrere Corona-Fälle, einer der beiden Männer stand als Kontaktperson eigentlich unter Quarantäne. Beim Landesparteitag der SPD vor drei Wochen wurde ein Antrag auf Abschiebestopp Afghanistan zurückgezogen, weil Innensenator Geisel zugesagt hatte, die Abschiebungen nicht zu vollziehen.[iv] Jetzt hat er es doch getan, trotz Quarantäne und Lockdown, trotz gegenteiliger Zusage und trotz der desaströsen humanitären Lage in Afghanistan.

Bereits am 11.12. wurden 45 Menschen aus Berlin per Sammelcharter nach Moldawien abgeschoben. Darunter auch eine 73jährige Frau, nachts abgeholt aus einer Unterkunft für besonders Schutzbedürftige. Sie war gerade erst aus der Lungenklinik entlassen und nach Infektionsschutzgesetz zur ärztlich überwachten, medikamentösen Tuberkulosetherapie verpflichtet worden.[v] Weitere schwerwiegende Erkrankungen kommen hinzu, das Attest liegt dem Landesamt für Einwanderung vor.

Berlin hat bisher in Absprache mit den Gesundheitsämtern Menschen in laufender TBC-Therapie nicht abgeschoben, um zu vermeiden, dass sie die Therapie abbrechen, untertauchen, erneut einreisen und so die Erkrankung weiterverbreiten. Duldung aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes. Ausgerechnet unter Corona wird diese Berliner Praxis nun geändert. Im Fall einer 73jährigen multimorbiden Frau.

„Wir sind sprachlos, angesichts der Härte und Verantwortungslosigkeit, mit der die Berliner Innenverwaltung in der Pandemie agiert. Die beiden dargestellten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Die große Mehrzahl der Abschiebungen findet außerhalb jeder öffentlichen Wahrnehmung statt. Wir fordern einen sofortigen Corona-Abschiebestopp. Abschiebungen während einer globalen Pandemie verbieten sich“, sagt Georg Classen, Sprecher des Flüchtlingsrats Berlin. „Für Kriegsgebiete wie Afghanistan fordern wir einen ausnahmslosen Abschiebestopp, auch für Straftäter. Wer hier eine Straftat begeht, muss auch hier dafür bestraft werden. Eine zweite Strafe durch Abschiebung in ein Gebiet, wo schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, darf es nicht geben.“

 

Pressekontakt:

Flüchtlingsrat Berlin Tel. 030 22476311 (länger klingeln lassen wg. Homeoffice). Falls Sie uns nicht erreichen, schreiben Sie bitte eine E-Mail an buero@fluechtlingsrat-berlin.de, wir rufen zurück.

 


[i] AgHs-Anfrage 18/24586 Abschiebungen aus dem Land Berlin im Jahr 2020 https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/18/SchrAnfr/s18-24586.pdf und 18/24959 Sammelabschiebungen aus Berlinhttps://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/18/SchrAnfr/s18-24959.pdf

[ii] Nach einem Charter aus Berlin nach Moldau und Serbien im Juli wurde ein Beamter positiv getestet. Seine KollegInnen wurden informiert, aber nicht die abgeschobenen Menschen, vgl. AgHs-Anfrage 18/24960 Infektionsschutz bei Abschiebungsmaßnahmen https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/18/SchrAnfr/s18-24960.pdf

[iii] https://www.economicsandpeace.org/wp-content/uploads/2020/08/GPI_2020_web.pdf

[iv] TAZ 15.12.20: Kritik an Berlins Innensenator https://taz.de/Drohende-Abschiebung-nach-Afghanistan/!5739466/

[v] Es müssen mindestens 6 Monate lang mehrere Antibiotika zugleich konsequent eingenommen werden. Wir gehen davon aus, dass dies für sozial prekäre Bevölkerungsgruppen in Ländern wie Moldawien nicht realisierbar ist.





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