Veröffentlicht am 12.06.2009

Rumänische Roma-Familien in Berlin Regen und Kälte ausgesetzt

Verstoß gegen EU-Recht zum Schutz der Roma-Minderheit
Pressemitteilung Liga für Menschenrechte und Flüchtlingsrat Berlin v. 12.06.09


Berlin, 12. Juni 2009

Gestern Mittag wurden ausnahmslos alle Roma-Familien, die auf Veranlassung des Senats für Integration, Arbeit und Soziales eine Notunterkunft im umstrittenen Asyllager in der Motardstraße fanden, bei Wind und Regen der Obdachlosigkeit ausgesetzt. Darunter Kinder, Kranke, Schwangere. Eine Einzel- und Härtefallprüfung fand nicht statt. Die rumänischen Familien sind dem Vernehmen nach mit irreführenden Versprechungen im Asyllager in Spandau untergebracht worden , um nur eine Woche später in dieselbe ausweglose Situation getrieben zu werden, in der sie von Anbeginn waren:

Schutzlos bei Nacht und Regen im Freien, jeglichem Übergriff ausgesetzt.

Von Politikgestaltung keine Spur

Die Frist der Notunterbringung sei abgelaufen, so die Begründung der zuständigen Senatorin Knake-Werner. Innensenator Körting ließ bereits vor einigen Tagen verlauten, dass die Roma Berlin verlassen müssten. Er wisse noch nicht wie, da es sich um EU-Bürger handele. Wer geglaubt hat, dass die Politikverantwortlichen bei Senat und Bezirksämtern eine humanitäre Lösung ernsthaft zu gestalten in der Lage sind, sah sich getäuscht. Ordnungsgemäße Verwaltung scheint für die Vertreter der rot-roten Sozialpolitik zur Hauptaufgabe in der Auseinandersetzung mit der CDU- und FDP-Opposition geworden zu sein. Von Gestaltung keine Spur.

Seit nunmehr zwei Wochen werden in den Medien rumänische Roma-Familien vorgeführt: angereist, um in Berlin und Umgebung Arbeit zu suchen, haben sie ohne Unterstützung keine Chance, für die Dauer ihres Aufenthalts eine menschenwürdige Unterkunft zu bekommen.

Dass die rumänischen Roma aufgrund ihres Status als EU-Bürger zu einem Aufenthalt in Berlin berechtigt sind, steht außer Frage. Auch wird von keiner Seite ihr Recht bestritten, sich in der Bundesrepublik arbeitsuchend zu melden oder ein eigenständiges Gewerbe zu gründen.

Europäisches Recht zum Schutz der Roma in Berlin unbekannt?

Den politisch Verantwortlichen in Berlin scheinen aber die vielen Beschlüsse, Vereinbarungen und Empfehlungen der EU-Kommission und des Europaparlaments unbekannt zu sein, die seit Beginn der Roma-Dekade im Jahre 2005 in allen Ländern der EU durch Gesetzesneuerungen und nationale Aktionspläne mit dem Ziel umgesetzt werden, die Ausgrenzung dieser größten und am stärksten marginalisierte Minderheit in Europa zu überwinden.

Anders als z. B. in Großbritannien, Schweden, Frankreich (oder auch dem ärmeren EU-Mitgliedsland Portugal) scheinen die politisch Verantwortlichen in Berlin nicht zu wissen, dass Roma – auch und gerade dann, wenn ihr Aufenthalt vorübergehend ist – bei der Suche nach Wohnung, Arbeit oder Gesundheitsfürsorge auf Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen sind. Dafür hätten dem Beispiel anderer Länder folgend schon längst Planstellen eingerichtet werden sollen. Vernachlässigbar scheinen in Berlin auch die bindenden Artikel der Kinderrechtskonvention, zu sein, die alle Staaten verpflichten dem Wohl des Kindes höchsten Vorrang einzuräumen. Dazu gehören der Besuch von Schule oder Kindergarten und auch eine würdige Wohn- und Lebensumgebung .

Die Liga und der Flüchtlingsrat Berlin erklären:

Die stets wiederholte Argumentation, dass anreisende Roma kein Anrecht auf Sozialhilfe oder sonstige Zuwendungen haben, entbindet die politisch Verantwortlichen nicht von der humanitären Pflicht, sicherzustellen, dass die Wahrnehmung des EU-Rechts auf Freizügigkeit, auf Schutz vor ethnischer Diskriminierung, auf einen gleichberechtigten Zugang zu Wohnung und Beschäftigung sowie zu Gesundheits- und Bildungsdiensten von allen Mitgliedsstaaten den Roma durch besondere Maßnahmen garantiert wird. Dazu hätten Vorkehrungen, wie sie in vielen EU-Ländern bestehen, schon längst getroffen sein müssen. Die Tatsache, dass Berlin für den Schutz der in jedem Sommer aus Ost- und Südosteuropa anreisenden Roma kein Konzept entwickelt hat, ist beschämend. Sie auf dem Rücken der Betroffenen für einen schäbigen Streit zwischen Regierung und Opposition zu nutzen, ist verantwortungslos.

Statt vorausschauende Konzepte anzuwenden, wurde in Berlin die Verantwortung der Polizei überlassen, die die Roma am 19. Mai 2009 laut Augenzeugenberichten aus dem Görlitzer Park in Kreuzberg vertrieb. Das steht im Widerspruch zu allen Beschlüssen der EU-Kommission betreffend Minderheitenschutz und soziale Inklusion, d. h. dem Ziel, allen Bürgern und Bürgerinnen der EU gleichberechtigte Teilhabe an den sozialen, ökonomischen und kulturellen Gütern zu ermöglichen.

Berlin hat ein brennendes humanitären Problem, das zu einem Ausgrenzungsskandal umzukippen droht. In dieser Situation müssen Zänkereien zwischen Regierung und Opposition in den Hintergrund treten. Die Eskalation der Wortgefechte in den Medien vergiftet das wegen der ökonomischen Krise ohnehin angespannte Klima in der Stadt und ist geeignet Rassismus und Feindseligkeiten gegenüber Schwachen zu schüren.

Die Liga mahnt deshalb eine zügige humanitäre Lösung an und appelliert an den Senat, an die Bezirksämter, an die Wohlfahrtsverbände, Hilfsorganisationen und Kirchen, eine Politik der zivilgesellschaftlichen Verantwortung zu demonstrieren und der entwürdigenden Situation für die Stadt und haltlosen Situation für die Roma ein Ende zu setzen.

„Rückkehrhilfen“ sind keine politische Lösung. Es sollten umgehend wieder Gespräche zur Schaffung einer Anlauf- und Beratungsstelle für Roma aufgenommen werden. An diesen werden sich Liga und Flüchtlingsrat beteiligen.

Gerade weil die rumänischen Romafamilien zunächst keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben und vom Arbeitsmarkt faktisch ausgeschlossen sind, gilt es – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Angehörigen auch dieser Minderheit Europas – den Verpflichtungen, die durch die EU-Kommission allen Mitgliedsstaaten zu ihrem Schutz und zur Entfaltung ihrer Rechte auferlegt sind, nachzukommen.

Die Beschlüsse der EU-Kommission verlangen nachdrücklich, Sinti und Roma unabhängig von ihrer Nationalität u. a.:

  1. bei der Suche nach einer menschenwürdigen Unterkunft nachhaltig zu unterstützen, (Obdachlosigkeit ist zu vermeiden und eine geeignete Unterbringung zu gewährleisten)
  2. ihnen im Krankheitsfall den Zugang zur medizinischen Versorgung zu gewähren
  3. den Kindern den Zugang zu Schulen und Kindergarten zu ermöglichen und
  4. sie vor Diskriminierung, Ausgrenzung und vor Übergriffen zu schützen.

Die Liga und der Flüchtlingsrat unterstützen die rumänischen Roma-Famlien bei der Forderung nach einer Verwirklichung dieser Verpflichtungen.

 

Berlin Friedrichshain,

12. Juni 2009





Nach oben scrollen