Veröffentlicht am 18.06.2024

18.06.2024: Forderungspapier an Innensenatorin Iris Spranger

Anlässlich der vom 19.-21.06.2024 stattfindenden Innenminister*innenkonferenz in Potsdam haben wir uns mit einem Forderungspapier an die Berliner Innensenatorin Iris Spranger gerichtet.

Hier das gesamte Papier als pdf.


Sehr geehrte Senatorin Spranger,

 

angesichts der aktuellen Menschenrechtslage im Iran, der humanitären Lage der Jesid*innen im Irak und des aktuellen Kriegs in Gaza appellieren wir an Sie, stellvertretend für die Berliner Landesregierung auf der IMK sich für konkrete Maßnahmen einzusetzen, die den Schutz und die Sicherheit der betroffenen Menschen gewährleisten.

 

Bundesweiter Abschiebestopp in den Iran und unbürokratische humanitäre Aufnahme iranischer Aktivist*innen aus dem Iran und den Nachbarländern

 

Menschenrechtsverletzungen sind in der Islamischen Republik systemimmanent und Teil der politischen Staatsräson.

 

Seit der Ermordung der jungen Kurdin Jîna Mahsa Amini durch den Staatsapparat im September 2022 hat der Iran massive Proteste erlebt. Die Antwort des iranischen Terrorregimes auf diese Proteste ist brutal: Der Folterstaat fürchtet die revolutionäre Frau*, Leben, Freiheit-Bewegung und intensiviert die Gewalt-strategie gegen politische Dissident*innen, ethnische und religiöse Minderheiten wie Kurd*innen, Belutsch*innen sowie LGBTQ+ Personen.

 

Die Unterdrückung der Frauen* ist das zentrale Charakteristikum der islamischen Republik. Mit dem seit April 2024 eingeführten Noor-Plan eskaliert die Situation zu einem regelrechten Krieg gegen Frauen* auf den Straßen Irans. Dabei setzt der Unrechtsstaat sein Gewaltmonopol ein, um die Kopftuchpflicht an öffentlichen Orten durchzusetzen. Frauen* sind dabei verstärkter Überwachung ausgesetzt und erleben häufiger Schläge, sexualisierte Gewalt, Elektroschocks sowie willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen.

Nicht nur Erwachsenen droht das Regime mit Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen, auch Kinder sind Opfer dieses Folterstaates.

 

Alarmierend sind auch die Zahlen der Hinrichtungen. Nach Angaben von Amnesty International wurden im Jahr 2023 offiziell 853 Hinrichtungen durchgeführt. Bis 16. Juni 2024 hat das Abdorrahman Boroumand Center bereits 264 vollstreckte Todesstrafen registriert. Dies sind jedoch nur die dokumentierten Fälle. Die Zahl der politischen Gefangenen im Iran, denen weiterhin die Todesstrafe droht, ist besorgniserregend hoch. Die Regierung setzt zudem regelmäßig Familien der Betroffenen unter Druck, damit diese nicht an die Öffentlichkeit gehen.

 

Es werden aber nicht nur im Inland Aktivist*innen bedroht, auch im Ausland geht das Regime gegen Oppositionelle vor. Regierungsvertreter*innen wie der Befehlshaber der iranischen Revolutionsgarde Hussein Salimi oder der Geheimdienstminister Ismael Kathbi drohen in öffentlichen Auftritten Aktivist*innen weltweit. Dass dies keine leeren Versprechen sind, zeigen die terroristischen Anschläge der islamischen Republik auf Oppositionelle im Ausland, wie auch der jüngste Anschlag auf den iranischen Journalisten Pouria Zeraati in London.

 

Trotz dieser Entwicklungen wurde der Abschiebestopp in den Iran bei der letzten Innenministerkonferenz nicht verlängert. Anbetracht der aktuellen Lage im Iran und der Verfolgung von politischen Dissident*innen auch im Ausland ist die Gefahr für Menschen, die in den Iran zurückgeschickt werden, enorm. Eine Abschiebung in den Iran setzt diese Menschen einem hohen Risiko aus, verhaftet, gefoltert oder gar hingerichtet zu werden.

 

Vor diesem Hintergrund fordern wir die Berliner Landesregierung auf, sich für einen bundesweiten Abschiebestopp in den Iran und für eine unbürokratische, humanitäre Aufnahme von oppositionellen Iraner*innen sowie derjenigen, die sich aufgrund von Lebensgefahr aktuell in Nachbarländern befinden, einzusetzen.

 

Bundesweiter Abschiebestopp für Jesid*innen und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen

 

Am 19. Januar 2023 hat die Bundesregierung die Verbrechen des Islamischen Staates (IS) gegen die Jesid*innen als Völkermord anerkannt. Diese Anerkennung ist ein bedeutender Schritt zur historischen Gerechtigkeit und zur Anerkennung des immensen Leids, das die Jesid*innen erlitten haben. Sie unterstreicht die Schwere der Verbrechen und das fortwährende Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Schutz für diese Minderheit.

 

Trotz dieser Anerkennung schiebt Deutschland seit Mitte 2023 Jesid*innen in den Irak ab. Diese Praxis steht im Widerspruch zur Anerkennung des Völkermords. Es ist moralisch und politisch unvereinbar, die Opfer eines anerkannten Genozids in ein Land zurückzuführen, in dem sie massiv verfolgt und traumatisiert wurden.

 

Im April 2024 veröffentlichte PRO ASYL in Zusammenarbeit mit Wadi e.V. ein umfassendes Gutachten über die aktuelle Situation der Jesid*innen im Irak. Der Bericht verdeutlicht eindringlich, dass die Lage der Jesid*innen in ihrer Heimatregion nach wie vor düster ist. Zehn Jahre nach dem Genozid durch den Islamischer Staat (IS) sind rund 280.000 Jesid*innen weiterhin in prekären Zuständen in Flüchtlingslagern im Nordirak gefangen. Diese Menschen leben unter menschenunwürdigen Bedingungen, ohne ausreichende Versorgung und Perspektiven auf eine sichere Zukunft.

 

Laut Human Rights Watch sind seit den Kämpfen gegen den IS zwischen 2014 und 2017 etwa 80 Prozent der öffentlichen Infrastruktur und 70 Prozent der Häuser in Sinjar zerstört. Ständige kriegerische Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen, einschließlich terroristischer Gruppen und rivalisierender Milizen, verschärfen die Unsicherheit. Die medizinische Versorgung und die Bildungseinrichtungen sind ebenfalls stark eingeschränkt. Das Hauptkrankenhaus in Sinjar ist außer Betrieb und verlassen. Das medizinische Personal arbeitet an einem Ort, der nur als Provisorium gedacht ist. Von den 206 Schulen, die vor 2014 existierten, sind derzeit nur 86 in Betrieb, diese sind überfüllt und leiden unter Lehrermangel.

 

Mit einer jesidischen Diaspora von rund 250.000 Menschen hat die Bundesrepublik Deutschland nach dem Irak die größte jesidische Gemeinschaft weltweit. Diese Menschen haben hier eine neue Heimat gefunden. Ihre Integration und der Schutz ihrer Rechte sind von großer Bedeutung für unsere Gesellschaft und unsere historische Verpflichtung gegenüber Genozidopfern.

 

Daher fordert der Flüchtlingsrat Berlin die Landesregierung eindringlich auf, sich für einen sofortigen und bundesweiten Abschiebestopp für Jesid*innen in den Irak einzusetzen. Zusätzlich sollte ihnen eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen gewährt werden.

 

Schutzstatus für palästinensische Geflüchtete sowie Evakuierung verletzter Kriegsopfer und vulnerablen Gruppen aus Gaza im Rahmen eines Aufnahmeprogramms für Kriegsgeflüchtete

 

Die humanitäre Krise im Gazastreifen ist dramatisch und verschlimmert sich täglich. Laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten gibt es bis zum 9. Juni 37.084 palästinensische Todesopfer. Die Zahl der Binnenflüchtlinge beträgt in Gaza 1,7 Millionen auf einer Fläche von 365 km². Das sind 75 Prozent bei einer Gesamtbevölkerung von 2,3 Millionen Menschen. Die Zahl der Verletzten beträgt 84.494.

 

Die systematische Zerstörung der Gesundheitsversorgung hat zur Folge, dass sie in weiten Teilen nicht mehr funktionsfähig ist. Dies führt zu einer Belastung der wenigen Gesundheitseinrichtungen, die noch Patient*innen versorgen. Der Mangel an Medikamenten, Elektrizität, sauberem Wasser und Nahrung führt über die Kriegsopfer hinaus zu einem „stillen Sterben“ im Gazastreifen, so Ärzte ohne Grenzen. Denn über die Kriegsverwundeten hinaus können z.B. auch Schwangere und chronisch Kranke nicht die Versorgung erhalten, die sie dringend benötigen. Ohne ausreichende medizinische Versorgung sind tausende weitere Leben in Gefahr.

 

Die derzeitige Belagerung Gazas durch die israelische Armee hat die Bevölkerung von lebenswichtigen Nahrungsmitteln abgeschnitten. Die aktuelle Versorgungslücke hat zu einer katastrophalen Ernährungslage geführt. Ärzte ohne Grenzen berichtet von einem alarmierenden Anstieg akuter Mangelernährung, insbesondere bei Kindern, schwangeren Frauen und jungen Müttern. Laut OCHA sind über eine Million Menschen von der Hungersnot, darunter 335.000 Kinder unter fünf Jahren von lebensgefährlicher Mangelernährung, bedroht.

 

Da die Flucht aus Gaza praktisch ausgeschlossen ist, sind die Menschen zum Verhungern und Sterben verurteilt. Der komplette Zusammenbruch der Infrastruktur und Wohngebäude machen auch ein Leben nach einem Waffenstillstand für die Bevölkerung unmöglich.

 

Angesichts dieser Gewalteskalation und der humanitären Notlage kritisieren wir den Entscheidungstopp des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) scharf und fordern die Landesregierung auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um diese Entscheidungspraxis zu beenden. Ein humanitäres Aufnahmeprogramm für Verletzte, medizinisch behandlungsbedürftige Menschen sowie vulnerable Gruppen aus dem Gazastreifen ist dringend einzurichten.

 

Wir begrüßen die Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in Israel eingereisten israelischen Staatsangehörigen vom Januar 2024 und rufen dazu auf, diese zu verlängern und allen Palästinenser*innen, die sich mit einem Besuch oder Ausbildungsvisum in Deutschland aufhalten, nach dessen Ablauf einen visumsfreien Aufenthalt zu ermöglichen.

Eine Unterscheidung hierbei zwischen Israelischen Staatsangehörigen und palästinensischen Schutzsuchenden kritisieren wir als diskriminierend und substanzlos.

 

Wir danken Ihnen für Ihre Zeit. Für ein Gespräch zu den angesprochenen und weiteren Themen stehen wir gerne zur Verfügung.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Ihr Flüchtlingsrat Berlin e.V.





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