Veröffentlicht am 21.05.2019

21.05.2019: 70 Jahre Grundrechte – aber nicht für Geflüchtete

Pressemitteilung vom 21.05.2019


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Das Grundgesetz wird 70 Jahre alt. Ein Grund zum Feiern. Nach den Schrecken der Nazi-Diktatur wurde ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der Sicherheit vor staatlicher Gewalt und für alle in Deutschland lebenden Menschen individuelle Grund-, Persönlichkeits- und Menschenrechte garantiert.

Das seit 1949 in Artikel 16 des Grundgesetzes garantierte Grundrecht auf Asyl wurde allerdings durch den 1993 von CDU/CSU, FDP und SPD beschlossenen Asylkompromiss – Drittstaatenregelung, sichere Herkunftsländer, Artikel 16a Grundgesetz – massiv eingeschränkt.

 

Betrachtet man heute den Alltag von Geflüchteten in Berlin, so wird deutlich, dass noch weitere grundlegende Grund- und Persönlichkeitsrechte von Geflüchteten permanent verletzt werden. Offensichtlich wird dies bei Artikel 13 Grundgesetz: „Die Wohnung ist unverletzlich“.

 

Artikel 13 bestimmt, dass bei einer Durchsuchung einer Wohnung ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vorliegen muss. Dies gilt nach der Rechtsprechung gleichermaßen für Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft. Es kommt nicht darauf an, ob die Bewohner*innen dort einen Mietvertrag haben oder nur nach ASOG eingewiesen sind, ob sie Deutsche oder Ausländer*innen sind und welchen aufenthaltsrechtlichen Status sie haben.

 

Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung wird von der Berliner Polizei im Kontext von Abschiebungen ständig verletzt. Die Polizei tut dies mit der Begründung, sie würde die Zimmer ja nur betreten und nicht durchsuchen. Dass es sich aber beim Eindringen in eine Wohnung oder ein Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft zum Zweck des Auffindens, der Festnahme und Abschiebung einer Person um eine Durchsuchung und nicht lediglich um ein Betreten handelt, und dass hierfür zwingend ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss nötig ist, haben beide Berliner Obergerichte, das OVG Berlin-Brandenburg wie auch das Kammergericht Berlin klar bestätigt. Entgegenstehende Entscheidungen höherer Gerichtsinstanzen liegen nicht vor.[1]

 

Die Berliner Polizei dringt dennoch weiterhin ohne Durchsuchungsbeschluss in Wohnungen und Zimmer ein, um Menschen abzuschieben. Innensenator, Ausländerbehörde und Polizei begründen das mit Art. 13 Abs. 7 Grundgesetz, wonach es bei „Gefahr im Verzug“ keines Durchsuchungsbeschlusses bedarf. Allerdings wurde auch dieses Argument von den genannten Gerichten für unzulässig erklärt, zumal bei einer geplanten Abschiebung genügend Zeit ist, einen Durchsuchungsbeschluss zu beantragen.

 

Polizei und Innensenator halten die Rechtsprechung der Berliner Obergerichte nicht für überzeugend. Nun mag man persönlich ja eine andere Rechtsmeinung vertreten. Wenn Innensenator und Polizei allerdings meinen, sich deshalb nicht an die Entscheidungen der zuständigen Gerichte halten zu müssen, dann bekommen wir ein Problem mit der Gewaltenteilung im Rechtsstaat.

 

Eine Schwierigkeit ist dabei, dass es im Berliner Polizeirecht (ASOG) keine rechtliche Grundlage für einen Durchsuchungsbeschluss zum Zweck einer Abschiebung gibt. Statt sich in rechtstaatlicher Weise damit auseinanderzusetzen, ignorieren der Innensenator, Ausländerbehörde und Polizei die Grundrechte und dringen weiter rechtswidrig ohne Durchsuchungsbeschluss in Wohnungen und Zimmer Geflüchteter ein. Auch wenn eine landesrechtliche Grundlage geschaffen würde, ändert dies nichts an der Notwendigkeit, für Abschiebungen einen Durchsuchungsbeschluss zu beantragen.

 

 

Im Zusammenhang mit Abschiebungen aus Wohnungen und Sammelunterkünften erreichten den Flüchtlingsrat Berlin in 2018 und 2019 zahlreiche Berichte über unwürdige und rechtswidrige Behandlung der Abzuschiebenden durch die Landes- und die Bundespolizei.[2] Die Vorwürfe wurden von Polizei und Innensenator ohne weitere Untersuchungen geleugnet.[3] Da Abschiebungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und in weiten Teilen ohne unabhängige Zeug*innen stattfinden, ist es für die Opfer sehr schwierig, gegen das rechtswidrige Behördenhandeln vorzugehen, zumal sie sich nach der Abschiebung nicht mehr in Deutschland befinden.

 

Durch die Praxis der Berliner Polizei, den Abzuschiebenden bei der Festnahme stets sofort das Mobiltelefon abzunehmen, ihnen in der Regel keine Möglichkeit zu geben, sich wichtige Nummern zu notieren und das Handy erst im Zielland wieder aushändigen zu lassen, wird für die Geflüchteten die Möglichkeit verhindert, ihre Angehörigen und Anwält*innen zu informieren. Durch dieses Vorgehen der Polizei wird gezielt der Zugang zu effektivem Rechtsschutz bei Abschiebungen verwehrt, der in Artikel 19 Grundgesetz garantiert ist. Wenn dies dennoch gelingt, erweisen sich immer wieder Abschiebungen – teils erst im Nachhinein – auch als rechtswidrig.

 

Was bedeutet es für unser Grundgesetz, wenn es von den staatlichen Stellen nicht in jedem Fall – zumal im Umgang mit vulnerablen Gruppen – beachtet wird?

 

„Das Desinteresse weiter Teile der Gesellschaft und staatlicher Behörden gegenüber der Verletzung von Grund- und Persönlichkeitsrechten von Geflüchteten und die Missachtung von Gerichtsbeschlüssen, wenn diese zugunsten der Rechte Geflüchteter ausfallen, ist eine Gefahr für den Rechtsstaat“ so Nora Brezger vom Flüchtlingsrat Berlin. „Anlässlich des 70. Geburtstags des Grundgesetzes müssen wir uns bewusst werden, dass Grundrechte keine Selbstverständlichkeit sind und dass deren Verletzung öffentlich sichtbar gemacht, verurteilt und bekämpft werden muss.“

 

Pressekontakt: Flüchtlingsrat Berlin, Tel.: 030 224 76 311, buero@fluechtlingsrat-berlin.de

[1] VG Berlin 16.2.2018 – 19 M 62.18, OVG Berlin 19.2.2018 – 6 L 14.18, Kammergericht Berlin 20.03.2018 – 1 W 51/18, alle in www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de; ebenso kürzlich auch VG Hamburg 15.2.2019 – 9 K 1669/18  https://fluechtlingsrat-berlin.de/vg_hh_gg13/, AG Ellwangen Verf. 15.3.2019 – 1 Cs 17 13976/18jug : https://fluechtlingsrat-berlin.de/ag_ellwangen_gg13/

 

[2] Vgl. Pressemitteilungen Flüchtlingsrat Berlin vom 22.10.2018 https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/horror-sammelabschiebung-unter-federfuehrung-berlins/und vom 27.11.2018 https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/presseinformation-vom-27-11-2018-abschiebungen-um-jeden-preis/, vgl. auch Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarates v. 9.5.2019 zu Menschenrechtsverletzungen durch die Abschiebungspraxis in Deutschland www.asyl.net/view/detail/News/anti-folter-komitee-sieht-gefahr-von-menschenrechtsverletzungen-durch-abschiebungspraxis/

[3] Vgl. www.berlin.de/sen/inneres/presse/pressemitteilungen/2018/pressemitteilung.751151.php

 





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