Veröffentlicht am 23.10.2019

23.10.2019: Polizei hat das Grundrecht auf Schutz der Wohnung zu respektieren: Richterlicher Durchsuchungsbeschluss für Abschiebungen weiterhin nötig!

Pressemitteilung Flüchtlingsrat Berlin vom 23. Oktober 2019

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Seit Inkrafttreten des „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“[1] am 21. August 2019 dringt die Berliner Polizei wieder gewaltsam in Flüchtlingsunterkünfte ein, um Menschen zur Abschiebung abzuholen – teils unter Einsatz eines Rammbocks und ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Der Flüchtlingsrat protestiert gegen diese grundrechtswidrige Praxis und fordert Innensenator Geisel auf, den Verfassungs- und Hausfriedensbruch durch die Berliner Polizei sofort zu stoppen. Auch die Berliner Praxis der Abschiebung zur Nachtzeit ist unzulässig und umgehend einzustellen.

Wegen eines Streits zwischen Sozialsenatorin Elke Breitenbach und Innensenator Andreas Geisel über die Frage, ob für das polizeiliche Eindringen in Wohnheime und Wohnungen bei Abschiebungen ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss notwendig sei, waren in Berlin Abschiebungen aus Wohnheimen bis zum 21. August 2019 de fakto ausgesetzt.[2] Betroffene und Betreiber hatten Strafanzeigen gegen Polizeibeamt*innen wegen Hausfriedensbruch gestellt. Jetzt beruft sich die Innenverwaltung auf eine Neuregelung durch das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“, das das polizeiliche Eindringen in privaten Wohnraum zwecks Abschiebung als reines „Betreten“ definiert, für das kein richterlicher Durchsuchungsbeschluss nötig sei.[3]

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die bundesrechtliche Neuregelung auf eine Initiative der Berliner Ausländerbehörde zurückgeht, die mit allen Mitteln versucht, das rechtswidrige polizeiliche Eindringen in private Wohnräume fortzusetzen.[4]

Der Flüchtlingsrat hält diese Neuregelung für offenkundig verfassungswidrig und nichtig. Denn gemäß Artikel 13 Abs. 7 Grundgesetz darf die Polizei in privaten Wohnraum – worunter unstrittig auch Zimmer in Flüchtlingsunterkünften fallen – nur in wenigen Ausnahmefällen ohne Durchsuchungsbeschluss eindringen, z.B. bei akuter Gefahr für Leib und Leben.[5] Eine Abschiebung fällt nicht unter die in Art. 13 Abs. 7 Grundgesetz genannten Ausnahmen.[6]

Ein einfaches Gesetz kann nicht die Verfassung außer Kraft setzen. Das Grundrecht auf Schutz der Wohnung gemäß Art. 13 Grundgesetz gilt selbstverständlich weiterhin auch im Falle von Abschiebungen. Somit braucht die Polizei zwingend einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss, wenn sie gegen den Willen der Betroffenen zum Zwecke der Abschiebung in private Wohnräume eindringen will“, so Nora Brezger, Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats. Mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz wurde eine bundesgesetzliche Grundlage für einen Durchsuchungsbeschluss zum Zweck der Abschiebung geschaffen, die zuvor in Berlin fehlte.[7]

Die Polizei verstößt nicht nur gegen das Grundrecht auf Schutz der Wohnung, sie begeht auch Hausfriedensbruch, wenn sie bei Abschiebungen ohne Erlaubnis der Wohnheimbetreiber und ohne Durchsuchungsbeschluss in Wohnräume in Unterkünften und in private Mietwohnungen eindringt. Betreiber wiederum machen sich des Hausfriedensbruchs strafbar, wenn sie der Polizei Zutritt zu den Zimmern der Bewohner*innen gewähren würden. Groteskerweise hat die Polizei nun sogar Wohnheimmitarbeitende, die der Polizei völlig zu Recht den Zutritt zum Heim verweigert haben, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte angezeigt.

Aktuell arbeiten SenIAS und SenInn an einer gemeinsamen Information für die Betreiber von Unterkünften, wie sich Wohnheimmitarbeitende vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neuregelung bei Abschiebungen verhalten sollen. Ohne das Ergebnis dieser Abstimmungen abzuwarten, betreibt die Berliner Polizei eigenständig „Aufklärungsarbeit“ und fährt außerhalb der Arbeitszeiten der Sozialarbeiter*innen Flüchtlingsunterkünfte an, um Securitymitarbeiter*innen durch unvollständige rechtliche Informationen zur Zusammenarbeit bei Abschiebungen zu bewegen, wie der Flüchtlingsrat von Mitarbeitenden verschiedener Sammelunterkünfte erfuhr.

Wir fordern Innensenator Geisel auf, Polizei und Ausländerbehörde anzuweisen, für Abschiebungen aus Wohnungen und Unterkünften stets einen Durchsuchungsbeschluss einzuholen und Mitarbeitende und Securities in Wohnheimen nicht unter Druck zu setzen, sich rechtswidrig zu verhalten. Der Flüchtlingsrat zählt auf Senatorin Breitenbach, dass sie bei ihrer klaren Haltung bleibt und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung von Geflüchteten verteidigt, statt es dem Koalitionsfrieden oder einer schnellen Lösung für die Betreiber zu opfern.

Zudem fordern wir, auf Abschiebungen zur Nachtzeit zu verzichten. Diese umfasst nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes die Zeit zwischen 21 bzw. 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens.[8] Für alle Bewohner*innen einer Unterkunft stellt es einen weitaus gravierenderen Eingriff dar, wenn die Polizei in der Nacht in die Unterkunft eindringt. Das Erleben häufiger nächtlicher Polizeieinsätze führt zu Retraumatisierungen, Angstattacken und anhaltenden Schlafstörungen.

 

Pressekontakt: Büro Flüchtlingsrat Berlin, Tel: 030/22476311, buero@fluechtlingsrat-berlin.de

 

Hintergrundinformationen und Quellen:

[1] Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, in Kraft seit 21. August 2019, Bundesgesetzblatt v. 20.08.2019, https://media.offenegesetze.de/bgbl1/2019/bgbl1_2019_31.pdf

[2] Zum Streit im Senat um das Grundrecht auf Schutz der Wohnung in Flüchtlingsunterkünften, Pressemitteilung Flüchtlingsrat Berlin v. 03.06.2019: https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/03-06-2019-zum-streit-im-senat-um-das-grundrecht-auf-schutz-der-wohnung-in-fluechtlingsunterkuenften/

[3] Neuregelung zum Betreten von Wohnungen in § 58 Abs. 5 AufenthG neu: https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/__58.html

[4] Vgl. Stellungnahme ABH-Chef Engelhard Mazanke v. 31.05.2019 zum Entwurf des „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“, https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/mazanke_grg.pdf

[5] Art. 13 Abs. 7 Grundgesetz: „Eingriffe und Beschränkungen dürfen im Übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.“

[6] Die Auffassung des Flüchtlingsrats wird von Jurist*innen bestätigt u.a.:
SenIAS Berlin, Durchsuchungsbeschluss für Abschiebungen aus Wohnungen und Sammelunterkünften, März 2019, https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/senias_art13_gg_polizei_braucht_durchsuchungsbeschluss_fuer_abschiebungen.pdf,
Rechtsanwalt Heiko Habbe, Der (un-?)geschützte Wohnraum. Betretens- und Durchsuchungsrechte der Behörden in Flüchtlingsunterkünften, Beilage zum Asylmagazin 8-9/2019,
Rechtsanwalt Volker Gerloff, Einschätzung zur Rechtslage bzgl. Wohnungsdurchsuchungen in Sammelunterkünften zum Zweck der Durchführung von Abschiebungen (zur Nachtzeit), https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/ra_gerloff_rechtslage_wohnungsdurchsuchung_abschiebung-4.0.pdf,
Wiss. Dienst des Deutschen Bundestags, Betreten und Durchsuchen der Wohnung einer abzuschiebenden Person nach § 58 Abs. 5 bis 9 Aufenthaltsgesetz, https://www.bundestag.de/resource/blob/659206/3a7d06c7bace13774e9dded4bcee4578/WD-3-206-19-pdf-data.pdf

[7] Gesetzliche Grundlage für Durchsuchungsbeschluss bei Abschiebungen in § 58 Abs. 6 AufenthG neu, https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/__58.html

 [8] BVerfG zur Dauer der Nachtzeit, Beschluss des Zweiten Senats vom 12. März 2019 – 2 BvR 675/14-, Rn. (1-80), siehe hierzu auch § 36 ASOG Berlin iVm § 104 StPO





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