06.10.2019: Flüchtlinge in Wohnungsnot – Berlin schließt zahlreiche wohnungslose Geflüchtete weiterhin vom Wohnberechtigungsschein aus
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Pressemitteilung vom 6. Oktober 2019
Rund 22.000 geflüchtete Menschen in Berlin leben auf unabsehbare Zeit in den Sammelunterkünften des Landes. Viele weitere wurden von den Bezirken als Wohnungslose in Obdachlosenunterkünfte eingewiesen. Eine Mietwohnung zu finden ist oft aussichtlos, nicht nur wegen des angespannten Wohnungsmarkts, sondern auch, weil Berlin viele Geflüchtete trotz absehbar dauerhaften Aufenthaltes vom Wohnberechtigungsschein (WBS) und damit vom Zugang zu den 100.000 Sozialwohnungen und weitgehend auch vom Zugang zu den 300.000 landeseigenen Wohnungen[i] ausschließt.
Trotz gegenteiliger Ankündigungen der r2g-Koalition hält die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen (SenSW) offenbar am diskriminierenden Ausschluss zahlreicher wohnungsloser Geflüchteter und weiterer Ausländer vom WBS fest. Das offenbaren zwei Prüfvermerke von SenSW, die dem Flüchtlingsrat vorliegen.[ii]
Anders als manche anderen Bundesländer[iii] schließt Berlin Asylsuchende und Geduldete nach wie vor generell vom WBS aus, auch wenn Sie aus Ländern mit hoher Asylanerkennungsquote kommen, schon seit vielen Jahren in Berlin leben oder z.B. aufgrund einer Ausbildungsduldung oder aus gesundheitlichen Gründen absehbar dauerhaft nicht abgeschoben werden.
Sogar Ausländer mit Aufenthaltserlaubnis, darunter auch viele wohnungslose anerkannte Geflüchtete, erhalten in Berlin – anders als in anderen Bundesländern – weiterhin keinen WBS, wenn die Verlängerung ihres Aufenthaltstitels innerhalb der nächsten 11 Monate ansteht.[iv] Für den Ausschluss Nichtdeutscher vom WBS reicht es in Berlin, dass bei nur einem Familienmitglied in nächster Zeit die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ansteht. Im Ergebnis können in Berlin vor allem dauerhaft bleibeberechtigte Familien mit Kindern wegen der häufig unterschiedlichen Taktung ihrer Aufenthaltstitel in vielen Fällen keinen WBS erhalten.
Immer wieder haben Beratungsstellen und Flüchtlingsrat gefordert, wohnungslosen Geflüchteten in Berlin den Zugang zum WBS zu ermöglichen[v], so auch beim Runden Tisch „Alternativen zur öffentlichen Unterbringung Geflüchteter“.[vi] Im Oktober 2018 hatte Staatssekretär Scheel (SenSW) daraufhin zugesagt, das Thema im Senat erneut auf die Agenda zu bringen und durch seine Verwaltung die rechtlichen Spielräume prüfen zu lassen. So steht es auch im Berliner Koalitionsvertrag.[vii]
Seit einem Jahr warten die Teilnehmer*innen des Runden Tisches nun auf das Ergebnis dieser Prüfung. Der Flüchtlingsrat hat daher jetzt nach dem Informationsfreiheitsgesetz die Prüfvermerke angefordert und darauf von SenSW zwei Vermerke vom 4.4. und 7.5.2019 erhalten.
Die Argumentation in beiden Vermerken vermittelt leider den Eindruck, dass SenSW die „rechtliche Prüfung“ weder ergebnissoffen noch mit dem Ziel einer Verbesserung für wohnungslose Geflüchtete durchgeführt hat, sondern im Gegenteil ausschließlich zu dem Zweck, jede Ausweitung des WBS auf weitere Ausländer und Geflüchtete zu verhindern.[viii]
Als Argument gegen eine Ausweitung des WBS wird u.a. die geringe Zahl der Sozialwohnungen in Berlin aufgeführt. Doch den objektiven Mangel an Wohnungen kann man nicht durch dauerhafte Einweisung Geflüchteter in Wohnungslosenunterkünfte beheben. Überlegungen zur Nutzung der im Bundesrecht (§ 27 Wohnraumförderungsgesetz) enthaltenen rechtlichen Spielräume beim WBS zu Gunsten der wohnungslosen Geflüchteten enthalten die Vermerke nicht, auch eine Auseinandersetzung mit der seit der Föderalismusreform 2006 bestehenden, bisher ungenutzten eigenständigen Gesetzgebungskompetenz des Landes im Bereich des WBS fehlt.
„Die Prüfvermerke von SenSW zum WBS für Ausländer und Geflüchtete sind mehr als enttäuschend. Geflüchtete werden absehbar auf Jahre hinaus in Wohnungslosenunterkünfte eingewiesen, eine Mietwohnung bleibt vor allem für Familien mit Kindern ein unerreichbarer Traum. Integrationspolitisch ist die Haltung der Bausenatorin eine Katastrophe“, sagt Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin.
„Wir erwarten von gesamten Berliner Senat und insbesondere von der Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, alle rechtlichen Gestaltungsspielräume auszuschöpfen, um die Wohnungslosigkeit geflüchteter Menschen zu bekämpfen. Dazu gehört auch, sie nicht länger vom Wohnberechtigungsschein auszuschließen“, so Classen weiter.
Pressekontakt: Büro Flüchtlingsrat Tel: 030/22476311, buero@fluechtlingsrat-berlin.de
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[i] Gemäß Wohnraumvergabegesetz Berlin (WoVG) werden 60 % der frei werdenden landeseigenen Wohnungen an WBS-Inhaber vergeben.
[ii] Prüfvermerke SenSW mit Stellungnahme Flüchtlingsrat: https://fluechtlingsrat-berlin.de/fr-zu-sensw-vermerke-wbs-pruefung-okt2019/
[iii] Recherche zur WBS Praxis einiger Bundesländer: https://fluechtlingsrat-berlin.de/fr_recherche_wbs_bundeslaender_okt2018
[iv] SenSW Entscheidungshilfe WBS für Ausländer, Juli 2017: https://fluechtlingsrat-berlin.de/sensw_wbs_ehilfe_ausl/
[v] PM Flüchtlingsrat 11.05.2017: „Senat blockiert Zugang zu Sozialwohnungen für Asylsuchende und Geduldete“, https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/senat-blockiert-zugang-zu-sozialwohnungen-fuer-asylsuchende-und-geduldete/
und Schreiben von Flüchtlingsrat und Initiativen an Senatorin Lompscher vom 22.02.2019 mit ausführlicher Problemschilderung und Lösungsvorschlägen: https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/brief_initiativen_an_lompscher_wbs_fuer_gefluechtete.pdf
[vi] Der Runde Tisch „Alternativen zur öffentlichen Unterbringung Geflüchteter in Berlin“ tagte in 2018 auf Einladung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales und der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz insgesamt viermal. Es nahmen Vertreter*innen aus Behörden, Wohnungswirtschaft, Flüchtlingsberatungsstellen und Initiativen teil: www.berlin.de/koordfm/themen/qualitaetsmanagement/gremien-und-arbeitsgruppen/artikel.709115.php
[vii] „Die Koalition wird alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um Geflüchteten den individuellen Zugang zum Wohnungsmarkt zu ermöglichen. Dafür wird geprüft, wie allen Geflüchteten die Anmietung einer Sozialwohnung mit Wohnberechtigungsschein ermöglicht werden kann, und bezieht die Praxis von Bremen und Niedersachsen ein.“ Koalitionsvereinbarung r2g 2016-2021, S. 118: www.berlin.de/rbmskzl/regierender-buergermeister/senat/koalitionsvereinbarung/
[viii] Dazu ausführlich unser Schreiben v. 02.10.2019 an SenSW-Staatssekretär Scheel: https://fluechtlingsrat-berlin.de/fr-zu-sensw-vermerke-wbs-pruefung-okt2019/