Veröffentlicht am 14.12.2020

14.12.2020: Sammelabschiebung trotz Corona-Lockdown

Berlin will am Mittwoch traumatisierten jungen Mann nach Afghanistan abschieben lassen

Pressemitteilung Berliner Bündnis gegen Abschiebungen nach Afghanistan*) vom 14.12.2020

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Berliner Bündnis gegen Abschiebungen nach Afghanistan fordert: Keine Sammelabschiebung am 16.12.2020 nach Kabul!

Obwohl Innenminister Seehofer schon am Samstag den „sofortigen Lockdown“ forderte[1], plant er am Mittwoch 16.12.2020 die seit März wegen Corona ausgesetzten bundesweiten Sammelabschiebungen nach Afghanistan wieder aufzunehmen[2] – ungeachtet der dort noch weitaus schlimmeren Pandemie und der desaströsen humanitären Lage in dem Land.[3] Berlins Innensenator Geisel will sich – entgegen anderslautender Äußerungen am Rand des SPD-Landesparteitags vor zwei Wochen – an dem Charter beteiligen und einen traumatisierten, als unbegleiteter Kinderflüchtling nach Berlin gekommenen jungen Mann abschieben lassen. Beratungsstellen, Flüchtlingsrat und Initiativen fordern angesichts der Pandemie und der eskalierenden Konflikte in dem Bürgerkriegsland einen ausnahmslosen Abschiebestopp für Afghanistan.

Afghanistan ist aktuell in extremem Ausmaß von der Corona-Pandemie betroffen.[4] Die Zahl der Infizierten steigt rasant, die humanitäre Lage verschärft sich weiter. Einkommensquellen für breite Teile der Bevölkerung sind weggebrochen, die Sicherheitslage ist desaströs.[5] Das Institute for Economics & Peace stuft Afghanistan im Global Peace Index 2020 als gefährlichstes Land der Welt ein, noch gefährlicher als Syrien. Weltweit sterben dort die meisten Menschen in Folge kriegerischer Auseinandersetzungen.[6]

Abschiebungen nach Afghanistan waren auch vor der Pandemie aus menschenrechtlicher Sicht völlig inakzeptabel. Es ist ein Zeichen äußerster Kaltherzigkeit, wenn der Berliner Senat trotz Lockdowns und Pandemie nichts Besseres zu tun hat, als einen jungen Menschen in eine völlig ungewisse und möglicherweise lebensbedrohliche Situation abzuschieben.

Der heute 21jährige Mann kam vor sechs Jahren als 15-jähriger unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan nach Berlin. Während seiner Flucht wurde er Opfer schwerster Misshandlungen. Weil er in Berlin straffällig wurde, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Drängen der Ausländerbehörde mit höchst tendenziöser pädagogisch-moralischer Begründung den wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung erteilten Schutzstatus wieder aufgehoben. Aktuell absolviert er eine Jugendstrafe, im Januar stünde die Entlassung an.

„Wir wollen die Straftaten des Mannes nicht bagatellisieren. Aber wir halten es für verantwortungslos, sich eines jungen Menschen, der als Jugendlicher nach Berlin gekommen ist und während seiner Kindheit Schreckliches erlebt hat, einfach so durch Abschiebung zu entledigen, noch dazu in Zeiten einer globalen Pandemie. Die Abschiebung nach absolvierter Haftstrafe kommt einer Doppelbestrafung gleich. Sie würde sämtliche Erfolge während der Haft – psychische Stabilisierung, Erlangung der erweiterten Berufsbildungsreife, Ausbildung zum Peer-Mediator, Drogenfreiheit – konterkarieren“, sagt Georg Classen, Sprecher des Berliner Flüchtlingsrats. „Es ist mehr als fraglich, ob der junge Mann angesichts seiner psychischen Beeinträchtigung, der Pandemie und der extrem prekären Lage in Afghanistan überhaupt überlebensfähig ist. Der junge Mann verfügt über keinerlei soziale Kontakte in Afghanistan. In den Nächten liegt die Temperatur in Kabul derzeit um minus 7 Grad“, so Classen weiter.

Der Flüchtlingsrat Berlin und das Berliner Bündnis gegen Abschiebungen nach Afghanistan fordern, die für Mittwoch geplante Abschiebung sofort zu stoppen. Wir fordern angesichts der Sicherheitslage und der Pandemie einen ausnahmelosen Abschiebestopp für Afghanistan, der auch Straftäter*innen einschließt.

 

*) Im Berliner Bündnis gegen Abschiebungen nach Afghanistan sind vertreten:

YAAR e.V.

Hazara Zentrum Berlin

World Hazara Council – Germany e.V.

Zaki – Bildung und Kultur e.V.

Afghanisches Kommunikations- und Kulturzentrum e.V.

Verein iranischer Flüchtlinge in Berlin e.V.

We’ll Come United Berlin Brandenburg

Jugendliche ohne Grenzen

BBZ – Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Geflüchtete und Migrant*innen

Flüchtlingsrat Berlin e.V.

sowie aktive Einzelpersonen

 

 

Pressekontakt:

Flüchtlingsrat Berlin Tel. 030 22476311, E-Mail buero@fluechtlingsrat-berlin.de

Hinweis: Bitte länger klingeln lassen (Homeoffice), falls Sie uns nicht erreichen, schreiben Sie bitte eine E-Mail an buero@fluechtlingsrat-berlin.de, wir rufen zurück.

 

[1] www.spiegel.de/politik/deutschland/coronavirus-horst-seehofer-fordert-sofortigen-lockdown-a-824b5d3f-b3d5-49c8-acae-b3c6d6445425

[2] PM PRO ASYL 13.12.2020: www.proasyl.de/pressemitteilung/erster-sammelabschiebungsflug-nach-kabul-seit-maerz-2020-steht-bevor/

[3] https://thruttig.wordpress.com/2020/12/09/bevorstehende-afghanistan-abschiebungen-aus-der-zweiten-coronawelle-in-die-zweite-coronawelle/

[4] www.aerzteblatt.de/nachrichten/115352/Hochrechnung-Rund-zehn-Millionen-Infektionen-in-Afghanistan;
OCHA, WHO Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 85, 26. November 2020, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-strategic-situation-report-covid-19-no-85-26-november-2020

[5] https://thruttig.files.wordpress.com/2020/10/20200716-aa-asylrelevante-lage-in-afg-teil-geschwarzt.pdf

[6] www.economicsandpeace.org/wp-content/uploads/2020/08/GPI_2020_web.pdf





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