Veröffentlicht am 07.04.2020

07.04.2020: Menschenleben schützen! Massenunterkünfte auflösen! Wohnungen statt Lager!

Gemeinsame Pressemitteilung von
We’ll Come United Berlin und Brandenburg, 
AK Wohnungsnot, 
Unter Druck e.V., 
Women in Exile, 
Selbstvertretung wohnungsloser Menschen / Wohnungslosentreffen, 
Wohnungslosenparlament,
Bündnis solidarische Stadt,
Flüchtlingsrat Berlin e.V.


Menschenleben schützen!
Massenunterkünfte auflösen!
Wohnungen statt Lager!

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Während zahlreiche Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung zum Schutz vor dem Coronavirus verordnet werden, leben zehntausende Menschen in Berlin in Geflüchteten-, Wohnungslosen- und Obdachlosenunterkünften, auf engstem Raum in Mehrbettzimmern, mit Gemeinschaftsbädern und/oder Gemeinschaftsküchen: Mindestens 30.000 Wohnungslose[1] wurden von den Bezirksämtern nach dem ASOG in prekäre Unterkünfte oft ohne jede Sozialbetreuung und Qualitätsstandards eingewiesen, weitere 20.000[2] leben in Sammelunterkünften des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten LAF mit bis zu 500 Bewohnern. Kontakt- und Abstandsverbote einzuhalten ist in dieser Situation unmöglich. Hinzu kommen mehrere tausend obdachlos auf der Straße lebende Menschen, die sich so gut wie gar nicht vor dem Virus schützen können. Auf der anderen Seite stehen derzeit fast alle 150.000 Betten in den 800 Hotels und Beherbergungsbetrieben in Berlin leer,[3] hinzu kommen zahlreiche Ferienwohnungen sowie monatsweise vermietete möblierte „Businessappartements“.

Wir fordern die umgehende Unterbringung aller Wohnungs- und Obdachlosen in Wohnungen und Ferien- oder Businessappartements und die Auflösung von Massenunterkünften, in denen der Infektionsschutz nicht umsetzbar ist.

 

Unsere Forderungen:

Sicheres und menschenwürdiges Wohnen statt Obdachlosigkeit und Sammellager – Sofortmaßnahmen

Obdachlose Menschen gehören aufgrund der Lebensbedingungen auf der Straße gesundheitlich stets zu den sogenannten Risikogruppen, ihre Situation hat sich durch die Corona-Pandemie erheblich verschärft: Berliner Notübernachtungen haben einen Aufnahmestopp oder die Zahl ihrer Plätze reduziert. Tageseinrichtungen für Wohnungslose schließen. Die Versorgung mit Lebensmitteln wird teilweise auf die Straße verlagert, die vorhandene Angebotsstruktur zerbröckelt. Für Menschen auf der Straße ist das eine enorme körperliche und psychische Belastung. Die kürzlich an zwei Standorten in Berlin geschaffenen 350 Plätze für obdachlose Menschen reichen für die vor Kurzem gezählten 2000 in Berlin sichtbar auf der Straße lebenden Menschen bei weitem nicht aus. In den Notquartieren der Kältehilfe kann sich das Coronavirus schnell ausbreiten – sie sind eine Gefahr für die Betroffenen und alle anderen.

In Unterkünften für Wohnungslose und für Geflüchtete leben viele Menschen mit schweren Vorerkrankungen, ältere Menschen und Schwangere sowie Familien mit Kindern. Fremde Personen müssen sich ein Zimmer teilen. In Unterkünften mit gemeinschaftlichen Sanitäranlagen und Küchen ist die notwendige Hygiene und die Einhaltung von Abstandsregeln nicht möglich und die Ansteckungsgefahr erheblich.

In Berlin stehen aufgrund der aktuellen Situation zahlreiche Ferienwohnungen, Pensionen, Businessapartments und Hotelzimmer leer. Es mangelt nicht an abgeschlossenen Wohneinheiten. Hier gibt es individuelle Sanitäranlagen und die Möglichkeit individueller Quarantänen. Über ein lokales Netzwerk an gastronomischen Betrieben könnte die Versorgung von Menschen in Unterkünften ohne Kochmöglichkeit oder in Quarantäne erfolgen und zugleich die Strukturen vor Ort unterstützt werden. Wir sehen es besonders in Zeiten einer Pandemie als gesellschaftliche Verpflichtung an, für ALLE Menschen Bedingungen zu schaffen, die das Infektionsrisiko senken. Wir rufen Betreiber von Hotels, Ferienwohnungen und Businessapartments auf, sich solidarisch zu zeigen und einen Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten.

Wir fordern den Senat auf, als Sofortmaßnahme leerstehende Hotelzimmer, Ferienwohnungen und Businessapartments für Obdachlose, für Risikopersonen und für Wohnungslose in Massen- und Sammelunterkünften ohne private Bäder anzumieten und so das Ende der Massenunterbringung einleiten.

 

Verlässliche Informationen und Beratung, Zugang zu WLAN und Infektionsschutz bereitstellen

Sammelunterkünfte bieten ein Dach über dem Kopf, aber neben fehlendem Schutz vor der Verbreitung des Virus wenig verlässliche Informationen für die Bewohner*innen. Geflüchtete berichten, dass in vielen Unterkünften lediglich mit Verboten gearbeitet wird. Information und Aufklärung seitens der Gesundheitsbehörden fehlen zum Teil völlig. In einer Reihe von Unterkünften kam es zu Quarantänemaßnahmen. Die Bewohner*innen wurden über Grund und Dauer der Quarantäne im Ungewissen gelassen. Schutzausrüstung wie Mundschutz und Desinfektionsmittel gab es weder für Personal noch für Bewohner*innen. Die Menschen bleiben mit ihren Ängsten und Fragen allein. Mangels in den Bewohnerzimmern verfügbarem WLAN bleibt vielen der Weg zu Informationen und Aufklärung und zur notwendigen Kommunikation mit Arbeitgebern und Behörden versperrt. Das Internetvolumen von Handyverträgen reicht oft nicht bis zum Ende des Monats. Zudem sind die Bewohner*innen aktuell durch Besuchsverbote den teils stringenten Machtstrukturen der Sammelunterkünfte verstärkt ausgeliefert.

Wir fordern den Senat auf, stets aktuelle Informationen über das Corona-Virus und seiner Auswirkungen auf den Alltag in allen notwendigen Sprachen online zur Verfügung zu stellen und auf der Straße verfügbare WLAN Zugänge (z.B. von Hotels, Behörden, Schulen) zu öffnen, damit ALLE Menschen freien Zugang zu Information erhalten. Zudem müssen Informationszugänge für Menschen ohne Smartphone oder Telefon geschaffen werden. In den Unterkünften muss in allen Wohnbereichen der Zugang zu einem leistungsfähiges WLAN vorhanden sein. Das ist auch Voraussetzung für die Teilhabe von Schüler*innen am digitalen Unterricht und für den Kontakt zu Behörden. Desinfektionsmittel und Schutzkleidung muss Bewohner*innen und Personal in Unterkünften jederzeit zur Verfügung stehen.

 

Individuelle Einzelquarantänen statt Quarantäne für komplette Unterkünfte organisieren:

Wenn Menschen in einer Massenunterkunft positiv auf Corona getestet wurden, obliegt es der*m Amtsärzt*in des Bezirks, geeignete Quarantänemaßnahmen anzuordnen. Eine Quarantäne ist für die Betroffenen sehr belastend. Vorrangig müssen Erkrankte und ihre identifizierten Kontaktpersonen separat in individuellen Quarantäneappartements untergebracht werden. Eine gemeinsame Quarantäne für alle Bewohner*innen einer Massenunterkunft ist unverantwortlich, weil sie die Gefährdung für alle nur erhöht. Notwendig ist stattdessen die individuelle Verlegung in Unterkünfte mit Appartementstruktur und in Ferienwohnungen usw., wo individuelle Quarantänen angemessen umsetzbar sind.

Wir fordern den Senat auf, Quarantänen für komplette Sammelunterkünfte unbedingt zu vermeiden und die Bezirke anzuweisen, Quarantänen für Bewohner*innen individuell durch Verlegung in geeignete Wohnungen bzw. Unterkünfte mit Appartementstruktur umzusetzen.Psychologische Unterstützung gewährleisten

Die Gefahr der Retraumatisierung anlässlich der Bedrohung durch das Corona-Virus ist für viele Geflüchteten hoch. In Sammelunterkünften fehlen Rückzugmöglichkeiten und Privatsphäre, besonders für Familien. Der ohnehin schwierige Zugang zu psychologischer Beratung in der Herkunftssprache ist durch die Corona-Pandemie fast gänzlich versperrt. Auch viele obdachlose Menschen leiden an psychischen Krankheiten wie z.B. Depressionen. Die Pandemie verstärkt die Unsicherheit, Angstgefühle und verfestigt die gesellschaftliche Marginalisierung. Eine Quarantäne auf engem Raum ist eine extrem belastende und beängstigende Situation.

Wir fordern Angebote zur psychologischen Beratung in den Herkunftssprachen per Telefon und online.

  

Wohnungen statt Lager

Obdachlose, Wohnungslose und Geflüchtete sind aus Gründen des Infektionsschutzes und zur Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens nicht nur in der aktuellen Situation, sondern grundsätzlich vorrangig in Mietwohnungen statt in Not- und Sammelunterkünften unterzubringen. Obdach- und Wohnungslosen, die die Einkommensgrenzen für den Wohnberechtigungsschein (WBS) erfüllen, ist ein WBS mit Dringlichkeit zu erteilen, ebenso Asylsuchenden, geduldeten und anerkannten Geflüchteten in Sammelunterkünften. Die Lagerpflicht für Geflüchtete ist aufzuheben (vgl. § 49 Abs. 2 AsylG). Auf Basis des WBS mit Dringlichkeit sind freiwerdende und neue Wohnungen des Landes Berlin sowie Sozialwohnungen zuerst an Obdachlose, untergebrachte Wohnungslose und Geflüchtete in Sammellagern zu vergeben (reales Housing First statt Bau und Belegung immer neuer Sammelunterkünfte).

Die Schließung der Massenunterkünfte, der Zugang zu Wohnungen für ALLE und der flächendeckende Zugang zu Information und Bildung durch kostenloses WLAN für alle ist notwendig, um die Corona-Pandemie und künftige Pandemien eindämmen zu können.

Alle angesprochenen Probleme lösen oder vermindern sich mit einer Abkehr von der Massenunterbringung und der Möglichkeit für alle Menschen, in einer Wohnung zu leben.

 

Pressekontakte:

We’ll Come United Berlin Brandenburg, Tel. 0163 1601 783

Flüchtlingsrat Berlin, buero@fluechtlingsrat-berlin.de, Tel. 030 224 76 311 (ggf. lange klingeln lassen wegen Weiterleitung in das Home Office)

Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, stefan.schneider@wohnungslosentreffen.de

#WohnungStattLager #LeaveNoOneBehind #NoLager

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[1] http://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/18/SchrAnfr/S18-22859.pdf

[2] https://fluechtlingsrat-berlin.de/laf_belegungsstatistik_03april2020/

[3] www.berlin.de/sen/wirtschaft/wirtschaft/branchen/tourismus/gastgewerbe-in-zahlen/





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