Gesetzgebung Asyl- und Migrationsrecht 2022/23

Stand: 07.09.2023

Überblick

Dokumentationen der Gesetzgebung zum Ausländer-, Asyl und Flüchtlingssozialrecht finden Sie hier:
Gesetzgebung ab 2022
Gesetzgebung 2020/21
Gesetzgebung 2018/19 

Gesetzgebung 2016/17
Gesetzgebung 2014/15
Gesetzgebung 2013

1. Entwurf Gesetz zur Einführung einer Kindergrundsicherung

Referentenentwurf BMFSFJ 30.08.2023
Eckpunkte BMFSFJ Januar 2023

Stellungnahme dpw Sept. 2023
Stellungnahme Tacheles Sept. 2023
Rechenbeispiele Tacheles Sept. 2023

Umbenennungen: Zum 1.1.2o25 sollen die Familienkassen in Familienservice, das Kindergeld in Kindergarantiebetrag, der Kinderzuschlag in Kinderzusatzbetrag und das Bundeskindergeldgesetz in Bundeskindergrundsicherungsgesetz (BKG) umbenannt werden.

Den Kinderzusatzbetrag sollen finanziell bedürftige Eltern erhalten. Er ergibt sich aus dem Bürgergeld-Regelsatz des Kindes und einem pauschaler Mietanteil für das Kind von 125 Euro, wird aber um den Kindergarantiebetrag (bisher: Kindergeld) gekürzt. Wenn das Kind dann immer noch mehr bekäme als ihm nach dem Bürgergeldgesetz (Hartz IV) zusteht, wird dieser Überschuss als Einkommen vom Bürgergeldanspruch der Eltern abgezogen. Unterm Strich profitieren von der Kindergrundsicherung ebenso ebenso wie bisher beim Kinderzuschlag nur wenige Familien mit einem Einkommen knapp über dem Bürgergeld.

Neu ist, dass alle Familien mit Kindern zusätzlich zum Antrag beim Jobcenter künftig auch noch einen Antrag auf den einkommensabhängigen Kinderzusatzbetrag beim Familienservice der Agentur für Arbeit stellen müssen. Künftig müssen dafür bei beiden Behörden umfangreiche Nachweise zu Einkommen, Vermögen, Miete, Kindesunterhalt usw. vorgelegt werden.

Unterm Strich gibt es erklärtermaßen nicht mehr als bisher. Die Bundesregierung hat aber über 2 Mrd € eingeplant für den Mehraufwand an Bürokratie beim Familienservice.

Kinder nichtdeutscher Eltern werden wie beim Kindergeld auch von der Kindergrundsicherung ausgeschlossen, wenn ihre Eltern Asylsuchende, Geduldete oder Besitzer bestimmter humanitärer Aufenthaltstitel sind. Das gilt selbst dann, wenn die Kinder einen Daueraufenthalt haben oder Deutsche sind. Sh. dazu Stellungnahme dpw S. 18 ff. und Tacheles S. 7 f.

Problematisch ist in diesen und weiteren Fällen u.a, dass künftig für das Jobcenter für den Bedarf des Kindes eine „Vermutung der Bedarfsdeckung“ durch die Familienkasse gelten soll.

2. Moldau und Georgien als sichere Herkunftsstaaten

Referentenentwurf des BMI v.23.08.2023 zur Änderung des Asylgesetzes.

Stellungnahme Pro Asyl

3. Geplantes Migrationspaket II und „Diskussionsentwurf“ des BMI zur Verbesserung der Rückführung

Als Ergebnis des „Flüchtlingsgipfels“ der – im Grundgesetz als Verfassungsorgan nicht vorgesehenen – Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) vom 10.5.2023 legte das Bundesinnenministerium (BMI) am 1.8.2023 einen Diskussionsentwurfmit umfangreichen Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts vor. Enthalten sind umfangreiche Ausweitungen der Abschiebungshaft und der spezifischen Sanktions- und Strafvorschriften für Nichtdeutsche. Der Entwurf ist weder mit den Bundeskabinett noch mit den Fraktionen der Ampelkoalition abgestimmt.

  • Bei Abschiebungen aus Sammelunterkünften soll die Polizei künftig auch ohne richterlichen Durchsuchungsbeschuss sämtliche Wohn- und sonstigen Räume der Unterkunft (nicht nur das Zimmer der abzuschiebenden Person) „betreten“ dürfen, wobei dieses „Betreten“ laut Begründung des Entwurfs auch die Befugnis zum Aufbrechen der Türen beinhalten soll (§ 58 AufenthG).
  • Der Verstoß gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 AufenthG) soll ein eigenständiger Haftgrundwerden, auch wenn keine Fluchtgefahr vorliegt. Abschiebungshaft soll auch zulässig werden, auch wenn erst innerhalb der nächsten 6 (bisher 3) Monate eine Abschiebung möglich erscheint (§ 62 AufenthG). Das Ausreisegewahrsam soll von 10 auf 28 Tage verlängert werden (§ 62b AufenthG).
  • Asylsuchende, bei denen im Zeitpunkt der Asylantragstellung die Voraussetzungen für Abschiebungshaft vorliegen, sollen trotz Asylantrags inhaftiert werden können. Nach dieser Regelung könnten künftig prinzipiell alle neu ankommende Asylsuchenden inhaftiert werden (§ 14 AsylG). Der Katalog als „offensichtlich unbegründet“ abzulehnender Asylanträge wird ausgeweitet (§ 30 AsylG).

Regelungen zur Übernahme von Kosten der Sozialleistungen etc. für Geflüchtete durch den Bund – die Kernforderung der Länder beim Flüchtlingsgipfel – sucht man im BMI-Entwurf vergeblich. Enthalten sind lediglich geringfügige Erleichterungen für Ausländerbehörden, so können Aufenthaltsgestattungen für bis zu 12 Monate verlängert werden, Aufenthaltserlaubnisse für subsidiär Geschützte sind für jeweils 3 Jahre auszustellen und zu verlängern.

Zudem fehlen die weiteren Vorhaben des seit langem geplanten Migrationspakets II.

Geplantes Migrationspaket II 
Ursprünglich geplant war bereits für Herbst 2022 das „Migrationspaket II“ u.a. mit Erleichterungen des Familiennachzugs zu Geflüchteten und zu hier lebenden deutschen Ehepartnern, der Aufhebung des Arbeitsverbots für Asylbewerber:innen und Geduldete sowie Erleichterungen der Abschiebung (sog „Rückführungsoffensive“).

 

4. Änderung des StAG – Erleichterung der Einbürgerung

Fassung Kabinettsbeschluss 23.08.2023 (die Verschärfungen sind unverändert enthalten: generell LU-Sicherung ohne Härteklausel, möglicherweise problematische Gleichberechtigungsklausel, vgl. Begründung)

Entwurf BMI v. 19. Mai 2023. Der Entwurf sieht kürzere Aufenthaltszeiten für den Einbürgerungsanspruch sowie Mehrfachstaatsangehörigkeit als Regelfall gemäß Koa-Vertrag der Ampel vor. Der Bezug von Sozialleistungen soll jedoch anders als bisher auch dann ein Einbürgerungshindernis werden, wenn dies nicht selbst zu vertreten ist, z.B. bei Kindern, Alleinerziehenden, eingeschränkt erwerbsfähigen Menschen mit chronischer Erkrankung oder Behinderung, Erwerbsunfähigen, Rentner*innen die ergänzend auf Grundsicherung angewiesen sind, pflegenden Familienangehörigen usw. Hinzu kommen weitere Verschlechterungen.

Stellungnahmen:
AWO Bundesverband, Juni 2023
Deutscher Anwaltverein, Juni 2023
Rat für Migration, 02.06.2023
Prof. Tarik Tabbara: Progressive Reform mit regressiven Untertönen: Der Gesetzentwurf zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts,VerfBlog, 2023/5/23
RA Jan Sürig, Bremen, zum geplanten Ausschluss von Kindern aus ärmeren Familien und von Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen oder als pflegende Familienangehöriger nicht arbeiten können.

Geplant war laut Koa-Vertrag der Ampel „ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht“, das „die Mehrfachstaatsangehörigkeit ermöglichen und den Weg zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinfachen“ soll. „Eine Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren. Eine Niederlassungserlaubnis soll nach drei Jahren erworben werden können. In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern werden mit ihrer Geburt deutsche Staatsbürger:innen, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.“

 

5. Entwurf Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung – „FEG 2.0“ mit Änderungen BeschV und AufenthV

BGBl I v. 18.08.2023, in Kraft (vgl. Art. 12) ab 18.11. 2023 Art. 1; ab 1.03.2024 Art 2; ab 01.06.2024 Art. 3 (Punktesystem „Chancenkarte“). Der Rechtsanspruch für Akademiker und für beruflich Qualifizierte auf eine Aufenthaltserlaubnis, die anders als bisher zur Ausübung jeder qualifizierten Beschäftigung berechtigt (§§ 18a und b AufenthG), gibt ab 18. November 2023, die Regelungen zum Spurwechsel in eine qualifizierte Berufstätigkeit nach §§ 18a/b AufenthG für vor dem 29.03.2023 eingereistes Asylbewerber, die ihren Asylantrag zurücknehmen  (§ 10 Abs. 3 AufenthG) und zur neuen Ausbildungs-Aufenthaltserlaubnis nach § 16g AufenthG erst ab 01.03.2024.

BMI und BMAS, Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung mit Begründung, BR-Drs. 284/23 v. 21.06.2023

Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung, Synopse des BMI vom 28.06.2023 mit allen Änderungen
Änderungen durch den Innenausschuss des Bundestags, BT-Drs. 20/7934 vom 21.06.2023
Fassung Bundestagsdrucksache 20/6500 vom 24.04.2023, mit Inkraftretensregeln
Fassung Kabinettsbeschluss vom 29.03.2023
Referentenentwurf BMI vom 17.02.2023

Der Innenausschuss hat umfangreiche Änderungen des Entwurfs vorgenommen: Die Ausbildungsduldung wird zur Aufenthaltserlaubnis zur Berufsausbildung für ausreisepflichtige Ausländer (§ 16g AufenthG). Auf die Aufenthaltserlaubnis besteht ein Rechtsanspruch. Bestehende Ausbildungsduldungen werden in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt (§ 104 Abs. 15).

Hinzu kommen die Möglichkeit eines „Spurwechsels“ in eine Aufenthaltserlaubnis für eien qualifizietre Erwerbstätigkeit gegen Rücknahme des Asylantrags, wenn die Einreise vor 29. März 2023 erfolgt ist (§ 10 Abs. 3 S. 4 neu), die Ermöglichung des Elternnachzugs zu Fachkräften (§ 36 Abs 3 neu) sowie die Streichung des Gesetzeszwecks der „Begrenzung“ des Zuzugs von Ausländern (§ 1 AufenthG).

Die Änderungen des AufenthG werden ergänzt durch eine „Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung“ mit Folgeänderungen der BeschäftigungsVO und der AufenthaltsVO: Referentenentwurf  Stand 17.2.2023, Regierungsentwurf Stand 29.03.2023. Unter anderem soll die „Westbalkan-Regelung“ von 25.000 auf 50.000 Personen erhöht und die Geltungsdauer entfristet werden.

Stellungnahme GGUA 27. Juni 2023: Geplanter Wechsel Ausbildungsduldung zur Aufenthaltserlaubnis funktioniert nicht wegen Lücke im Gesetzentwurf

Stellungnahmen DAV und RAV März 2023.
Stellungnahmen weiterer Verbände zum Referentenentwurf auf der Seite des BMI, darunter DJB, Studierendenwerk DSW, HRK, DGB, EKD + Kath Büro, dpwDRK, IB, Diakonie, AWO, CaritasBAGFW, Verband Binationaler, Reporter ohne Grenzen, BDA, DIHK, Zentralverband dt. Handwerk,  Städte- und Gemeindebund, Landkreistag, StädtetagDeutscher VereinAgentur für Arbeit, IAB, Sachverständigenrat MigrationGoethe Institut, Dt. KrankenhausgesellschaftDt. Pflegerat, Verband der Games Branche, …

Das Gesetz soll Visa und Aufenthaltserlaubnisse für Facharbeitende und Akademiker:innen erleichtern. Die Erwerbsmöglichkeiten für Studierende mit Aufenthaltserlaubnis zum Sprachkurs oder Studium werden verbessert. Auch eine nicht einschlägig qualifizierte Berufstätigkeit soll für ein Bleiberecht von Hochschulabsolvent*innen ausreichen. Für Drittstaater mit Daueraufenthaltsrecht in einem anderen EU-Staat, die in Deutschland ein Arbeitsangebot haben, soll für das Aufenthaltsrecht nach § 38a AufenthG die Vorrangprüfung bei der Arbeitserlaubnis entfallen.

 

6. Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts (Migrationspaket I)

Die Änderungen im Bundesgesetzblatt, in Kraft ab 31.12.2022

Beratungshinweise der Diakonie zum Chancen-Aufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG und Checklisten zu den geänderten Bleiberechtsregelungen in § 25a und § 25b AufenthG

Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Chancen-Aufenthaltsrecht v. 23.12.2022 und v. 14.02.2023
Die ergänzenden Hinweise des BMI stellen nochmal klar, dass für die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG die Identität noch NICHT zwingend geklärt sein muss. Dies kann auch während der 18-monatigen Laufzeit der AE nach § 104c geschehen. Die AE kann dann als Ausweisersatz ausgestellt werden. Zudem empfiehlt das BMI, bis zur Fertigstellung des elektronischen Aufenthaltstitels (eAT) die Aufenthaltserlaubnis durch „einfaches Behördenschreiben“ zu bescheinigen, damit die Zeit zur Erfüllung der Voraussetzungen der §§ 25a, 25b AufenthG bestmöglich genutzt werden kann.

Synopse der Änderungen im AufenthG, erstellt von GGUA Münster.

Änderungen durch den Innenausschuss des Bundestags, BT-Drs. 20/4700 v. 30.11.2022

Anhörung zum Chancen-Aufenthaltsrecht am 28.11.2022 mit Stellungnahmen der Expert*innen

Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs 20/3717 v. 28.09.2022.

Aktualisierte Stellungnahme BumF, JoG, tdh
Stellungnahme Deutsches Institut für Menschenrechte DIMR

Fassung Kabinettsbeschluss vom 6.7.2022, einige Details wurden gegenüber dem BMI-Entwurf verbessert.

Entwurf Bundesinnenministerium vom 07.06.2022
Zahlreiche Verbände kritisieren den BMI-Entwurf scharf, so die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, die Diakonie, der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Pro Asyl sowie der Verband Binationaler Partnerschaften.

Das Gesetz soll den Zugang zum Bleiberecht für lange in Deutschland lebende geduldete Geflüchtete erleichtern. Im Koalitionsvertrag kündigte die Ampelregierung eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe und ein Absenken der Voraufenthaltszeiten für das Bleiberecht nach § 25a/b AufenthG sowie eine Erleichterung des Ehegattennachzugs an:

„Gut integrierte Jugendliche sollen nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland und bis zum 27. Lebensjahr die Möglichkeit für ein Bleiberecht bekommen. Besondere Integrationsleistungen von Geduldeten würdigen wir, indem wir nach sechs bzw. vier Jahren bei Familien ein Bleiberecht eröffnen. Der bisherigen Praxis der Kettenduldungen setzen wir ein Chancen-Aufenthaltsrecht entgegen: Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben … sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen.

 … Die „Duldung light“ schaffen wir ab. Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende schaffen wir ab.

… Zur Ehepartner:in nachziehende Personen können den erforderlichen Sprachnachweis auch erst unverzüglich nach ihrer Ankunft erbringen.“

Der Entwurf ändert nach den Maßgaben des Koa-Vertrags die zeitlichen Voraussetzungen für das Bleiberecht, hält aber an Duldung Light und Arbeitsverboten fest. Auf den Sprachnachweis soll nur beim Ehegattennachzug zu ausländischen Fachkräften verzichtet werden, nicht jedoch beim regulären Ehegattennachzug zu Deutschen und Nichtdeutschen. Zudem soll die Abschiebungshaft ausgeweitet werden,

 

7. Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren

Die Änderungen im Bundesgesetzblatt, in Kraft ab 1.1.2023

Änderungen durch den Innenausschuss des Bundestags, BT-Drs. 20/4703 v. 30.11.2022
Anhörung  am 28.11.2022 mit Stellungnahmen der Expert*innen
Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 8.11.2022, BT-Drs. 20/4327

Stellungnahme Deutsches Institut für Menschenrechte DIMR
Stellungnahme Pro Asyl

Referentenentwurf BMI Stand 11.10.2022. Asylanhörungen sollen auch als Videokonferenz stattfinden, Sprachmittler auch per Video hinzugezogen werden können. Asylwiderrufs- und Rücknahmeverfahren sollen nur noch anlassbezogen erfolgen. Es soll eine vom BMI finanzierte behördenunabhängige Asylverfahrensberatung eingeführt werden.

 

8. Verfassungskonforme Anpassung des AsylbLG

Urteil Bundesverfassungsgericht v. 24.11.2022: Niedrigere „Sonderbedarfsstufe“ für alleinstehende erwachsene Asylbewerber in Sammelunterkünften verstößt gegen Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Bestätigt wurde der Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Düsseldorf, der die seit September 2019 geltende 10 % Kürzung der AsylblG-Leistungssätze für Alleinstehende in Sammelunterkünften wegen angeblichen Wirtschaften aus einem Topf („Zwangsverpartnerung“) für verfassungswidrig hält.

Das BMAS hat den Ländern per Rundschreiben empfohlen, nach dem Urteil des BVerfG sowohl nach § 2 AsylbLG (wie im Urteil des BVerfG entschieden) als auch nach § 3 /3a AsylbLG die 10 % Kürzung Alleinstehende ab dem 24.11.2022 zu beenden und entsprechende Nachzahlungen zu erbringen. Für Zeiträume vor dem 24.11.2022 gilt dies nur, soweit Rechtsmittel eingelegt wurden oder noch eingelegt werden können.

Das BMAS hat den Ländern außerdem mitgeteilt, dass zum 1.1.2023 die Leistungssätze nach §§ 3/3a AsylbLG analog der Erhöhung der Regelsätze nach SGB II/XII durch das Bürgergeld erhöht werden.

Musterwiderspruch und Überprüfungsantrag auf Nachzahlung wegen verfassungswidriger Leistungskürzung im Wege der „Zwangsverpartnerung“ Alleinstehender und Alleinerziehender in Sammelunterkünften.

Ein weitere Vorlageverfahren des LSG Niedersachsen-Bremen zur Höhe der Beträge nach § 3a AsylbLG ist beim BVerfG unter dem Aktenzeichen 1 BvL 5/21 aktuell noch anhängig und zur Entscheidung in 2023 vorgesehen.

Stellungnahme Flüchtlingsrat Berlin für das BVerfG, Stand Nov. 2022: download

Laut Koalitionsvertrag der Ampel soll das AsylblG „in dieser Legislaturperiode im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG fortentwickelt” werden. Was das bedeutet bleibt offen – bis auf die Feststellung, das die Ampel am gesonderten Leistungssystem für Asylsuchende und andere Geflüchtete festhalten will.

Aktuell – Anfang Mai 2023 – liegt zur Anpassung an die Rechtsprechung des BVerfG und verfassungskonformen Weiterentwicklung des AsylbLG noch kein Referentenentwurf vor.

 

9. Bürgergeldgesetz – Änderungen im SGB II und SGB XII

BGBl. v. 20.12.2022, in Kraft ab 1.1.2023, in Teilen ab 1.7.2023.

Synopsen SGB II und SGB XII mit allen Änderungen, erstellt von Tacheles e.V. Wuppertal.
Änderungsempfehlung Vermittlungsausschuss, BT-Drs. 20/4600
Stellungnahme Bundesrat, BT-Drs. 20/4226
Änderungen Ausschuss für Arbeit und Soziales, BT-Drs. 20/4360
Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales am 7.11.2022 mit Stellungnahmen der Sachverständigen
Entwurf Bundesregierung Änderung des SGB II und SGB XII, BT-Drs. 20/3873 vom 10.10.2022

Stellungnahme Flüchtlingsrat Berlin zur Ermittlung der Regelsätze für das Bürgergeld und das AsylbLG, November 2022: download

Das Arbeitslosengeld II wird in Bürgergeld umbenannt, Sanktionen heißen künftig Leistungsminderung. Sämtliche Einschränkungen und Anspruchsausschlüsse für AsylbLG-Berechtigte und andere Nichtdeutsche in § 7 SGB II und § 23 SGB XII übernimmt der Entwurf unverändert.

Referentenentwurf BMAS vom 21.07.2022
Synopsen zum Referentenentwurf des BMAS
Stellungnahme Tacheles e.V. zu den Ausschlüssen für Nichtdeutsche vom Bürgergeld siehe Seite 7 und 8 sowie Seite 48 bis 50.
Stellungnahme dpw, zu den Ausschlüssen für Nichtdeutsche vom Bürgergeld siehe Seite 17 bis 19 im PDF
Weitere Stellungnahmen auf der Seite des BMAS

 

9a. Wohngeld Plus Gesetz 2023

Bundesgesetzblatt vom 8.12.2022, in Kraft ab 1.1.2023
Erläuterungen des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen
Wohngeld Plus Gesetz, Fassung Kabinettsbeschluss 28.09.2022

 

10. Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine – EU Beschluss 2022/382

Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 v. 04.03.2022 zur Einführung eines vorübergehenden Schutzstatus für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine

Leitlinien der EU v. 21.03.3022 zur Umsetzung des Beschlusses 2022/383 und  Berücksichtigung bedeutsamer Verbindungen – meaningful links – zur Ukraine bei Drittstaatsangehörigen

Richtlinie 2001/55 EG vom 20.07.2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen

§ 24 AufenthG – Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz

Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung v. 7.3.2022 mit erster Verlängerung bis 31.08.2022: Legale visafreie Einreise und visafreier Aufenthalt für Kriegsflüchtlinge einschl. Drittstaatsangehöriger aus der Ukraine bis 31.08.2022. Zweite Verlängerung, dritte Verlängerung sowie vierte Verlängerung: Seit 1.9.2022 legale visafreie Einreise und visafreier Aufenthalt für drei Monate ab der ersten Einreise nach Deutschland. Bei Ablehnung eines Aufenthaltstitels auch vor Ablauf der 90 Tage kein legaler Aufenthalt mehr.

Umsetzungshinweise BMI 
Schreiben v. 5.03.2022 (u.a. keine Verteilung bei privater Wohnmöglichkeit), Schreiben v. 14.03.2022,  Schreiben v. 14.04.2022 und Schreiben v. 2.6.2022 u.a. zu Einbeziehung bei Ausreise bis 90 Tage vor dem 24.2.2022, Einbeziehung Geflüchteter aus Krim, Donezk und Luhansk.

Schreiben BMI u.a. zur Einbeziehung Drittstaatsangehöriger Stand 05.09.2022, u.a. zur Einbeziehung Drittstaatsangehöriger.
Schreiben BMI v. 08.08.2022 zum Fortbestehen des Schutzstatus bei Weiterwanderung in einen anderen Aufenthaltsstaat der EU.

Infoseite Senat Berlin mit FAQ für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine
deutsch   englisch   ukrainisch   russisch

Registrierung, Unterbringung und bundesweite Verteilung im Ukraine Ankunftszentrum (UA-TXL) im ehemaligen Flughafen Berlin-Tegel

Formular Wohngeberbescheinigung für 6 Monate zur Vorlage im UA-TXL für eine Berlinzuweisung

Antrag auf einen Termin beim Landesamt für Einwanderung LEA zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis

Anwendungshinweise LEA Berlin zum AufenthG (VAB)> zu § 24 AufenthG unter  A.24

Infoseite Flüchtlingsrat Berlin für Geflüchtete aus der Ukraine
deutsch        englisch     Musteranträge Flüchtlingsrat

Infoseite Flüchtlingsrat Berlin für aus der Ukraine geflüchtete nicht ukrainische Drittstaatsangehörige       deutsch      englisch

 

11. Änderungen Aufenthalts- und Sozialrecht für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine ab 1.6.2022 (Sofortzuschlags- und Einmalzahlungsgesetz)

Gesetz zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen und weiterer Gesetze v. 23. Mai 2022 – BGBl 27.05.2022.

Beschlussempfehlung Ausschuss für Arbeit und Soziales v. 11.05.2022 – BT-Drs. 20/1768 (Neuregelungen für Ukraine-Geflüchtete)

Gesetzentwurf v. 13.04.2022 – BT-Drs. 20/1411

Das Sofortzuschlags und Einmalzahlungsgesetz regelt Einmalzahlungen und Zuschläge nach AsylbLG und  SGB II/XII zum Ausgleich pandemiebedingter Mehrbedarfe und der Preisentwicklung: 200 Euro einmalig für Erwachsene, 20 Euro monatlich mehr für Kinder.

Erst im laufenden Gesetzgebungsverfahren wurde der Gesetzentwurf ergänzt um umfangreiche Änderungen des Aufenthalts- und Sozialrechts für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine: bundesweite Verteilung § 24 AufenthG, erkennungsdienstliche Behandlung §§ 49/81 AufenthG, Wohnsitzauflage § 12a AufenthG sowie der Wechsel vom AsylbLG ins SGB II/XII („Rechtskreiswechsel„). Voraussetzung für Leistungen nach SGB II/XII ist ein Aufenthaltstitel nach § 24 oder eine grüne Fiktionsbescheinigung nach § 81 AufenthG. Ohne diese Nachweise besteht weiterhin nur Anspruch nach AsylbLG. Leistungen nach AsylbLG muss das Sozialamt auch für die Übergangszeit erbringen, bis die Leistungen nach SGB II/XII bewilligt sind (§ 18 AsylbLG).

Anspruch auf Sozialleistungen besteht wegen der Wohnsitzauflage nach § 12a AufenthG grundsätzlich nur am zugewiesenen Wohnort.

Neu ist die erkennungsdienstliche Behandlung aller Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die ggf. rückwirkend bis zum 31.10.2022 nachgeholt werden soll.

In Berlin reicht für Leistungen nach SGB II/XII auch eine weiße Fiktionsbescheinigung des LEA mit rundem Dienstsiegel und AZR-Nummer, hier ein Muster, nicht aber nur eine Terminbuchung beim LEA und/oder Berlinzuweisung des UA TXL.

Auch ab 1. Juni 2022 neueingereiste Kriegsflüchtlinge erhalten in Berlin zunächst Leistungen nach AsylbLG, weil das LEA sich nicht an der Registrierung im UA TXL beteiligt und dort weder Aufenthaltserlaubnisse noch grüne Fiktionsbescheinigungen ausgestellt werden.

Geflüchtete haben nach AsylbLG bzw. SGB II/XII (Hartz IV/Bürgergeld) auch wenn sie privat untergebracht sindAnspruch u.a. auf Regelsätze, angemessene Miete und Heizkosten einschl. Nachzahlungen (ggf. Untermietvertrag vorlegen!), Mehrbedarfszuschläge für Alleinerziehende (auch bei vorübergehender Trennung vom Partner in der Ukraine) und bei Bedarf eine Erstausstattung an Kleidung und Schuhen.

Nach AsylbLG/SGB XII gibt es eine Krankenversichertenkarte nach § 264 SGB V, nach SGB II eine Krankenversicherung nach § 5 SGB V. Bei Pflegebedürftigkeit muss das Sozialamt die ambulante oder stationäre Pflege bezahlen, da eine Pflegeversicherung nach AsylbLG/SGB XII nicht vorgesehen ist und diese Versicherung Leistungen auch erst nach zweijähriger Vorversicherungszeit erbringt.

Die Weisung der Bundesagentur für Arbeit v. 23.05.2022 stellt klar, dass nach SGB II Vermögen unter 60.000 € zuzüglich 30.000 € je weitere Person für sechs Monate nicht berücksichtigt wird (Sonderregelung wegen der Pandemie). Laut Schreiben BMAS v. 25.05.2022 wird im SGB XII wegen der Pandemie Vermögen für die Dauer von sechs Monaten nur berücksichtigt, wenn das Vermögen erheblich ist. Es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn man dies erklärt. Ab 1.1.2023 gilt insoweit das Bürgergeldgesetz.

Die o.g. Weisung der Bundesagentur für Arbeit und das o.g. Schreiben des BMAS stellen klar, dass bei Sozialhilfe und beim Alg 2 Einkommen des Partners in der Ukraine nicht berücksichtigt werden darf und die Prüfung der Unterhaltspflicht einer Person in der Ukraine entfällt.

Der Anspruch auf Sozialhilfe nach AsylbLG bzw. SGB XII bzw. Leistungen vom Jobcenter nach SGB II besteht bei Mittellosigkeit sofort! Verlangen Sie ggf. einen sofortigen Vorschuss!

 

 

12. Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems GEAS

Im Mai 2023 wurde ein von Pro Asyl als „Asylkompromiss 2.0“ scharf kritisierter erneut geänderter Entwurf für ein EU-weit rechtlich verbindliches Verordnungspaket zum Asylrecht vorgelegt, das eine regelmäßige Inhaftierung Schutzsuchender an den Außengrenzen der EU sowie eine faktische Legalisierung von Pushbacks ohne Prüfung der Asylgründe beinhaltet.

Im Dezember 2022 wurde der Entwurf einer Instrumentalisierungs-Verordnungvorläufig gestoppt: Im Falle einer »Instrumentalisierung von Migration« durch Drittstaaten sollte ein Sonderasylrecht greifen. Die Instrumentalisierungsverordnung richtete sich allerdings nicht gegen diese Drittstaaten, sie zielte einzig und allein darauf, die Rechte von schutzsuchenden Menschen zu beschneiden.

Im Juni 2022 hatte sich der Rat der EU auf Vorschläge für einen neuen Solidaritätsmechanismus zur Aufnahme aus Seenot geretteter Menschen geeinigt. Gleichzeitig wurden umfassende Verschärfungen für Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen vorgeschlagen:

  • Screening-Verordnung: Schutzsuchende sollen direkt nach Aufgriff an der Grenze eines Mitgliedstaates fünf bis zehn Tage für ein Screening inhaftiert werden und als »nicht eingereist« gelten. Dort soll entschieden werden, ob ein normales Asylverfahren oder ein Asylgrenzverfahren durchgeführt wird, in dem Schutzsuchende als »nicht eingereist« gelten, siehe Verordnungsvorschlag von 2020
  • Das bis zu 24 Wochen dauernde Asylgrenzverfahren soll für einige Fälle verpflichtend werden, u.a. wenn die Anerkennungsquote eines Herkunftslandes unter 20 % liegt. Es soll den Mitgliedstaaten freigestellt sein es darüber hinausgehend auf fast alle Asylsuchenden anzuwenden. Während der gesamten Zeit sollen Betroffene als »nicht eingereist« gelten, was absehbar ihre Inhaftierung bedeutet, sh. geänderter Verordnungsvorschlag von 2020.
  • Gemäß Vorschlag für eine neue Rückführungsrichtlinie kann sich direkt daran ggf. die erweiterte Abschiebungshaft von bis zu 18 Monaten anschließen.
  • Krisen-Verordnung: Während einer »Krise« könnten Asylgrenzverfahren ausgeweitet werden, so dass sie für alle Schutzsuchenden gelten, die EU-weit eine Anerkennungsquote von 75 % oder niedriger haben. Außerdem sollen bei »Krisen« oder »höherer Gewalt«, wie einer Pandemie, Möglichkeiten eröffnet werden, von wichtigen Standards abzuweichen., siehe Verordnungsvorschlag von 2020
  • Asyl- und Migrationsmanagementverordnung: Der Rat der EU will an der Dublin-Verordnung festhalten. Durch die Beibehaltung des »Ersteinreiseprinzips« bleibt die Zuständigkeit meist bei Außengrenzstaaten wie Griechenland und Italien.
  • Die vorgeschlagenen Regelungen zu den Solidaritätsmaßnahmen bei »Migrationsdruck« und bei Ausschiffung nach Seenotrettung die Außengrenzstaaten entlasten sollen, sind kompliziert und realitätsfern. Verordnungsvorschlag von 2020

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Diese Infoseite wird kofinanziert durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der Europäischen Union AMIF.



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